Belästigungen 25/14: Vom Schaden des Methanolabbaus (und anderen weihnachtlichen Leiden und Plagen)

Es ist ein großer Segen, daß der Mensch vernunftbegabt ist. Das erkennt man am besten am Einzelfall. Zum Beispiel lieferte sich vor einiger Zeit ein offensichtlich höchst vernünftiger Mann ins Hamburger Universitätsklinikum ein, weil er sich in einem Anflug praktischer Kritikfähigkeit eine zusammengerollte Ausgabe der „Bild am Sonntag“ in den Hintern geschoben hatte und sie nicht mehr selbsttätig herausbekam – was logisch ist: Schädlinge lassen sich ungern aus ihrem natürlichen Habitat entfernen.

Um so verwunderlicher, daß der Mensch als Kollektivwesen so wenig Mühe darauf verwendet, sich die Vorweihnachtszeit anal einzuverleiben, um sie ein für alle Mal aus den Weltläufen zu eliminieren. Statt dessen fügt man sich ins scheinbar Unvermeidliche, ruiniert sich Leber und Galle mit Zimtzuckerplörre, ramscht die Kaufhäuser leer, ohne sich die erworbenen Konsumgegenstände hinterher wenigstens in den Arsch zu stopfen, rotiert wie Brummkreisel durch ein entfesseltes Inferno von grellbuntem Alarmlicht und klingbingdingender Schallfolter, gegen das eine Helene-Fischer-Zurschaustellung geradezu humanitär wirkt, und am Ende sitzt man dann im trauten Familienkreis und erwägt insgeheim effektive Maßnahmen zur gegenseitigen Auslöschung, die oft nur daran scheitern, daß man sich Feuerzangenbowle und Massenvernichtungsplätzchen nun mal selbst verabreichen muß und damit in den meisten Fällen aufgrund vollständiger Lähmung und Kontrollverlust kurz vor Erreichen der tödlichen Dosis aufhört.

Wohlgemerkt: Gegen Familien als solche ist wenig einzuwenden; sie sind höchst sinnreiche und in vielen Lebenslagen erfreuliche Einrichtungen. Weshalb man aber ausgerechnet im tiefsten Winter riesige Entfernungen zurücklegt, um sich um einen Tisch zu versammeln, in einem suizidalen Rekordversuch letale Massen von Weißmehl, Industriezucker, Fett, Totfleisch und Farbstoffen zu verschlingen und dazu die schlimmsten Melodien aller Zeiten aufzusingen, nachdem das Gespräch über Putin, Arbeit, Fernsehprogramm und Tante Agathes rätselhafte Blumenkohlkrankheit versiegt ist, – das entzieht sich meiner Auffassungsgabe.

Und weil das alles nur durch die Zufuhr erheblicher Mengen unterschiedlichster Darreichungsformen von Ethanol zu ertragen ist, sorgt der weihnachtliche Familienmensch für die Zufuhr erheblicher Mengen Ethanol in abstrusester Abfolge – verzuckert, heiß, scharf, eisig, sprudelnd, herb, wieder verzuckert oder mehreres davon gleichzeitig. Und wundert sich hinterher, wenn er kurz vor Silvester wieder aufwacht und auf seinem Schädel und Unterleib ein dermaßen titanisches und grimmiges Exemplar der in gröblichster Verniedlichung als „Kater“ bezeichneten Spezies sitzt, daß er sich am liebsten selbst in den Hintern kriechen täte.

Daß er sich da wundert, hat indes noch einen anderen Grund: Tatsächlich hat bis heute niemand hieb- und stichfest nachweisen können, woher der Kater eigentlich kommt und wieso ihn der eine von der bescheidenen Feierabendmaß, der andere nicht mal nach einem Weihnachtsbesäufnis im Quadrat kriegt. Theorien hierzu gibt es viele, von der alten Wein/Bier-Mischmasch-Faustregel über diverse Methanol-, Acetaldehyd- und Fuselchemien, Entwässerungs- und Stick-Schnarch-Ideen, Nationalismen (in Schweden ist angeblich jeder zweite gegen den Katzenjammer immun, in Italien nur jeder zehnte, von den Franzosen leidet ein Drittel nach dem Suff an der landesspezifisch bezeichneten „Fresse aus Holz“) bis hin zur Beschwörung grundsätzlicher Individualität: So konnte sich etwa Winston Churchill bis an die Oberkante mit hochverfuseltem Cognac zuschütten, ohne je ein Surren zwischen den Brauen zu verspüren; der ansonsten (solange man keine russische Badewannenmarke mit Desinfektionsmittelzusatz bevorzugt) als außergewöhnlich verträglich taxierte Wodka hingegen schmiß ihn schon in homöopathischer Dosis aufs Leidensbett.

Die Erscheinungsformen des „Überhängers“ sind unterschiedlich und reichen vom leichten Schwindel über den berüchtigten Schlagbohrer, der knapp vor dem Ohr ein- und im oberen Bereich der Nase wieder austritt, bis hin zum unvermittelten Exitus, der den Dichter Dylan Thomas ereilte, nachdem er beschlossen hatte, das von einem Rekordversuch (18 Gläser Whisky) herrührende Unwohlsein mit therapeutischem Nachtrunk zu besänftigen, dabei aber vergaß, daß sein bevorzugtes Getränk absoluter Spitzenreiter der Fuselliga ist und mehr als das dreifache der empfohlenen Höchstdosis an lebervernichtenden „Begleitalkoholen“ enthält.

Ebenso uneinig ist sich die Welt, was gegen das fürchterliche Leid zu tun sei. In einer bekannten deutschen Wochenschrift für doofe Großbürger empfiehlt eine Autorin im Geiste von Mr. Thomas, „am Morgen danach kleine Ethanol-Dosen zu sich“ zu nehmen. Das bremse „den schädlichen Methanolabbau“ (wohingegen das Methanol selbst nach Ansicht der Dame offenbar völlig unschädlich ist), „und auch kann die Katerstimmung etwas mildern“ (sic). Die „Betonumg“ (sic) liege auf „klein“, was sie wohl selbst nicht beachtet, sondern sich vor der weiteren Auflistung von Standardschmarrn (Hering, Kaffee, Magnesium, frische Luft) einen kräftigen Humpen zugeführt hat. Nun ja, vielleicht wartete im Zimmer nebenan die Familie.

Ich weiß ja aber auch nicht weiter. Nur eine kleine persönliche Betrachtung und eine historische Überlegung: Bei mir selbst bleibt der Kater außerhalb der Weihnachtszeit zuverlässig aus. Der Mensch wiederum dröhnt sich seit etwa 10.000 Jahren systematisch mit Alkohol zu (von der Tierwelt zu schweigen, die damit wahrscheinlich schon bald nach dem Urknall anfing) und erfand dadurch neben der Vernunft auch eine Zivilisation, die es ihm heute ermöglicht, sich dreißig Jahre länger ins Grab zu saufen als zu Steinzeiten. Ein Weihnachtsfest samt Punsch, Baum, Geschenktornado und Schlägerei in der Guten Stube gab es jedoch nicht vor dem frühen 19. Jahrhundert. Manchmal sind die älteren Bräuche eben die besseren, zumindest für die Krankenhäuser, die sich ohne den Klimbim wichtigeren Dingen widmen könn(t)en, etwa dem Hintern versehentlicher „Bild am Sonntag“-Konsumenten.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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