Frisch gepreßt #434: Ladytron „Ladytron“

Es dauert genau einen halben Takt, einen Akkordwechsel, bis die Assoziationen einsetzen: Plötzlich ist imaginär-imaginativ wieder 1972, und die Zukunft ist schimmernde Gegenwart, das Leben ein Sein in einem Traum, der zugleich ein Raumschiff ist. Durch dessen in indirektes, milchig weiches Kunstlicht getauchte Gangröhren schleicht ein Mann in retrofuturistischem Aufzug, der scheinbar scheu lächelnd seine durchtriebenen Absichten zugleich verbirgt und äußert: „I‘ll find some way of connection“, croont er, „hiding my intention, then I‘ll move up close to you …“

O ja, daß Erotik und Elektronik nicht nur phonetisch (zumindest aus dem Abstand eines Planetenorbits) fast kongruent sind, wissen wir erst seit Bryan Ferry, der damals mit entwaffnender Offenheit in einem Setting, das einem charmant billigen Science-Fiction-Film entsprungen schien, urtriebige Begierden und Konflikte in eigentlich simplen Rock ‘n‘ Roll fließen ließ, sie einhüllte in die Alufolie von Brian Enos genial-dilettantischen Synthesizer-Tippsereien: „I‘ll use you and I‘ll confuse you, and then I‘ll lose you, still you won‘t suspect me.“

37 komische Jahre später äußerte sich selbiger Brian Eno zu Ladytron, allerdings nicht zu dem längst (in ironischer Absurdität) zum Ewigkeitsklassiker marmorisierten Urknall sämtlicher folgenden New-Wave-Glam-Blüten, an dem er damals so entscheidend beteiligt war, sondern zu einer Band, die in ebenso ironischer Absurdität sich selbst nach dem Song benannte und seit 20 Jahren die Blütenblätter aufzusammeln nur scheint, die die aus diesem Urknall hervorgegangene weitere Entwicklung der elektroerotischen Popmusik am Wegrand verstreute: „Ladytron sind für mich die beste englische Popmusik, die Art Band, die nur in England entstehen kann, mit dieser skurrilen Mischung aus exzentrischem Art-School-Herumgealbere und Kostümiererei, dabei vollständig vertraut mit allem, was musikalisch passiert und was sie irgendwie zusammenhäkelt und -webt, zu etwas ganz Neuem.“

Tatsächlich wird jeder, der im Lauf seines Lebens Kontakt mit der Stromleitung synthetischer Romantik hatte, die sich zwischen Elektropop, New Wave und dem nebligen Duster der so unwiderstehlich englischen Shoegaze-Verhuschtheit ein gutes Stück jenseits, unter und über dem Mainstream-Geplärr der Stadien-Großprotze durch die Musikgeschichte schlängelt (ungefähr so windungsreich wie dieser Satz) und nur in den frühen 80ern mit funkelnden Chartplätzen ins Licht der Großöffentlichkeit strömte, von einem Déjà-vu ins nächste taumeln beim Hören des sechsten Albums von Helen Mamie, Mira Aroyo, Daniel Hunt und Reuben Wu. Wir verzichten indes mit guter Absicht darauf, auch nur einen weiteren Namen zu nennen, weil die Band seit Beginn ihrer Reise so vehement mit ungewollten Assoziationen, Vergleichen und Einordnungen zu kämpfen hat, daß davon ihre eigenen Absichten, ihr singulärer Charakter so sehr verschattet wurde, daß selbst Brian Enos Plädoyer verscholl.

Probieren wir‘s also ganz neu, blenden wir aus, was war, ziehen wir nur kurz und respektvoll den Hut vor der staunenswerten Beharrlichkeit dieser längst nicht mehr vergleichlichen Band, die viele längst vom Sand der Zeit zerrieben wähnten und die nun nach acht Jahren (kreativ prall gefüllter) „Pause“ so debütartig aus dem vermeintlichen Nichts in der Gegenwart landet, daß sie auch aus der Zukunft kommen könnte und jedenfalls einen Albumtitel nicht braucht. Staunen und freuen wir uns über wundervolle Songs wie „Paper Highways“, „Tower Of Glass“ und „The Mountain“, die ewige Geschichten in vertraute und doch ganz neue Klänge gießen, körperlos konkret, frei von irdisch-irdenem Gerappel und Gerattel und doch in ihrem Schweben physisch greifbar wie das Polaroid-Bild einer erträumten Begegnung mit der Lady aus Bryan Ferrys Gedicht. Weil es der Zukunft nämlich nicht nur bei Stanley Kubrick und Mister Spock egal ist, ob auf dem Abreißkalender „1972“ oder „2019“ steht.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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