Schnee: ist weiß, kalt und in unberührtem Zustand wunderschön. Nach intensivem Kontakt mit den Bewohnern der irdischen Städte (den sogenannten „Autos“) wird er zu schwarzgrauem Ekelmatsch, aber dafür kann er nichts: Seiner Natur nach ist er eine bezaubernde Sache. Und ein ziemlich schönes Beispiel für die Wirkungsweise der Evolution.
Früher nämlich war Schnee harmlos und erfreulich. Um Silvester herum begann er vom Himmel zu rieseln, unausweichlich und ziemlich pausenlos bis Anfang März. Ich erinnere mich an die labyrinthischen Gänge, die Hausmeister mit riesigen Schaufeln in die weißen Massen gruben und die entlang wir ABC-Schützen unbegleitet Hand in Hand und akrobatisch rutschend unseren Weg zum Unterricht in Lesen/Schreiben/Rechnen fanden, mit dekorativen Aufklebern auf den Ranzen: „Sicher zur Schule, sicher nach Hause!“ Unterwegs hingen an den Dachrinnen des Giesinger Altersheims halbmeterlange Eiszapfen, die hin und wieder herunterkrachten, ideale Munition für ausgiebige Straßenschlachten, die nicht selten mit blutenden Lippen und Augenbrauen vorläufig endeten und auf dem Pausenhof mit Schneebällen fortgesetzt wurden.
Nicht ganz so sehr freuten sich die Bewohner einsamer Bergdörfer, wenn ihre Häuser zusehends im Schnee versanken. Aber die Lebensmittel- und Kolonialwarenhändler an der Ortsstraße übten vorbildliche Vorratshaltung, und so ließ es sich auch bei Vollverschneiung ein paar Wochen aushalten.
Heute ist der Schnee keine Freude mehr, sondern eine Katastrophe. Lebensmittel- und Kolonialwarenhändler gibt es nicht mehr, nur noch dezentral gelegene Einkaufszentren, denen dank Just-in-Time-Belieferung nach zwei Tagen die Fertignahrung ausgeht, weshalb Armadas von Hubschraubern Hilfspakete über sämtlichen bayerischen Städten, Dörfern und Tourismuszentren abschmeißen müssen. Allüberall stürzen Mehrzweckhallen ein, deren Architekten und Erbauer mit allem gerechnet haben, aber nicht mit einem traditionellen Winter. Der öffentliche Verkehr bricht vollständig zusammen, weil Züge und Bahnen für vieles ausgelegt sind, aber nicht für Schnee.
Und die Schulen bleiben von vornherein geschlossen, weil die Gentrifidioten ihren Erbnachwuchs, der später mal ihre zusammengerafften Millionen verwalten und vermehren soll, keinen unbewachten Schritt tun lassen dürfen: Ein Schneeball, ein Eiszäpfchen, und der angestrebte BWL-„Bachelor“ ist schon im Kindergartenalter im Eimer, weil das Bams nach zwei Tagen Krankenbett selbst mit einer täglichen Extraportion Ritalin im Leistungswettbewerb kaum mehr mithalten kann. Wie gewohnt einzeln am Schultor abliefern kann das degenerierte Pack seine wertvollen Zukunftsinvestitionen auf zwei Beinen auch nicht, weil dort bei achthundert auf engstem Raum hilflos durcheinander herumrutschenden SUV-Panzern eine Lebensgefahr herrscht, mit der der wildeste Eisballhagel nicht mithalten kann.
Aber heute ist das ja egal. Heute muß man nicht mehr hinaus. Ein Wetter gibt es auch auf dem Smartphone; da kreiseln ein paar possierliche Schneeflocken herum, und ob irgendwo ein SUV-Panzer in eine Mehrzweckhalle hineinrummst, schert niemanden.
Das gilt übrigens auch in anderen Bereichen. Was war es früher für ein Aufwand, wenn man im späten Winter auf die Idee kam, mal die Photos zu sortieren und ins Album zu kleben – oder auch nur die Alben (und Schuhschachteln) aus dem Regal zu ziehen, um das Zeug mal anzuschauen. Heute hat man eine Mediathek auf dem Tablet, die bei jedem zehnten „Update“ (also zweimal wöchentlich) zuverlässig verschwindet oder sich in ungeordnete Dateifragmente auflöst. Das ist genauso putzig wie das in eine kreiselnde Schneeflocke verwandelte Klima.
Und Musik! Früher stand in jeder Wohnung ein schwankendes Schwerlastregal mit hunderten bis tausenden Vinylschindeln herum, die man mit Seidenhandschuhen herauszog, entmagnetisierte, abstaubte, vorsichtig auflegte und dann, beim Hören, in Musikzeitschriften blätterte, um die Bedeutung dunkler Textzeilen zu ergründen. Zeitschriften wie Face, Blitz, Dazed & Confused, Sounds. Die gibt es heute alle nicht mehr, weil niemanden mehr eine Textzeile interessiert (höchstens eine, die sich von selbst als blöder Unfug erweist, etwa irgendein Mitsingquatsch von Marteria) und sowieso niemand mehr Platten hat (außer ein paar nerdigen Neo-Vinylfreaks). Sondern man hat eine Spotify-Playlist, und wenn da ein Song mal drei Wochen weg ist, ist er eben weg. Adieu, Erinnerungsbiographie, welcome schneefreie Beliebigkeit
Entsprechendes gilt immerhin noch nicht für Sex. Obwohl uns wohlmeinende Trendpeople die ganzen Achtziger hindurch einreden wollten, in Zukunft (also: JETZT!, vgl. selbiges Magazin) werde nur noch cybergevögelt, eingeschnallt in so riesige Ganzkörperapparate aus Gummi, Plastik und Alu, die auf notdürftig zusammenanimierten Bildern immer so aussahen, als könnte man sie höchstens in einer Mehrzweckhalle unterbringen. Die aber inzwischen wegen Schnee eingestürzt ist, drum auch nix Cybersex (oder hat sich einer meiner in den Achtzigern schon lebendigen Leser seither jemals so ein Gummiteil drauf- oder reingeschnallt? Ich hoffe nicht).
Der Krieg übrigens ist da auch raus. Von dem hat man uns erzählt, er werde in Zukunft (s. o.) ebenfalls digital geführt. Von Menschen, die in Mehrzweckhallen (s. o.) an Bildschirmen sitzen und „präzise Schläge“ gegen die Cyberstruktur des Feindes führen. Inzwischen hat sich herausgestellt: Das mag sein, aber kaputtgemacht und getötet wird in echt, und präzise ist das Ganze höchstens insofern, als der von den Transatlantikern seit Jahren herbeipropagierte Krieg gegen Rußland (und dann China) ziemlich präzise alles kaputtmachen und töten wird, was in Eurasien herumkreucht und -fleucht (Menschen meine ich; Ameisen kümmert der Unsinn im Normalfall eher nicht).
Immerhin eines haben Cybersex und Cyberkrieg gemeinsam, und das ist das Beispielhafte an beiden Phänomenen und das Problematische und zugleich Beruhigende an dieser ganzen schneefreien Welt, in der der Mensch sich eher zu Hause zu fühlen wähnt als in der verschneiten Alternative dort draußen: Wenn man den Stecker rauszieht, ist sie nur noch eines – schlagartig und nachhaltig weg. Und der Schnee … na ja, na gut, der (inzwischen vermutlich) auch.
Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.