Frisch gepreßt #435: Jackie Gleason „Lover’s Rhapsody“

Ich kann mich an eine Geschichte aus meiner recht frühen Kindheit erinnern, von der ich nicht mehr weiß, ob ich sie geträumt, erfunden, in der Trambahn erlauscht oder in einem Fix-&-Foxi-Heft gelesen habe. Ich weiß auch gar nicht mehr genau, wie die Geschichte ging; ungefähr so: Man schaut etwas an, zum Beispiel eine der vielen winzigen Seifenblasen im Badewannenschaum. Man schaut immer näher hin, nimmt eine Lupe, dann eine zweite Lupe, und zuerst sieht man da nur eine Blase, also fast nichts, das irgendwie schimmert und beim Hinschauen größer wird. Dann löst sich das Schimmern auf in kleine Bereiche des Teilschimmerns, aus denen winzige Dinge hervortreten, die größer werden und sich als Wesen erweisen. Diese Wesen führen ein lustiges Treiben auf, von dem man immer mehr erkennt: Erst hüpfen und flitzen sie nur ziellos in der Gegend herum, dann kriegt das Hüpfen und Flitzen Richtung und Sinn, und es entstehen Abenteuer, Tragödien, spannende Krimistories. Während man da zuschaut, bleibt die Zeit stehen; man taucht hinein und erlebt mit – bis irgendwann irgendwas passiert, draußen in der Realität, so was wie ein Erwachsener, der einen Satz mit dem Wort „Hausaufgaben!“ ruft, und Blubb! schrumpft alles zusammen, und man sieht wieder nur ein Bläschen, eines von Millionen im Badewannenschaum.

Ungefähr so betrachtet ist Jackie Gleason, 1916 geboren und 1987 gestorben, einerseits ein Bläschen im Schaumbad der populären Kultur des 20. Jahrhunderts, andererseits sein Leben ein ungefähres Äquivalent der Schaumkatastrophe in Blake Edwards‘ Klassiker „The Party“ („Der Partyschreck“, 1968): Egal, worauf man die Lupe richtet, eine mysteriöse, fantastische, haarsträubende Geschichte blubbert aus der nächsten hervor und in sie hinein, angefangen vielleicht mit Papa Gleason, der eines Dezemberabends 1925 sämtliche Familienfotos ins Kaminfeuer warf und am nächsten Tag mit Hut, Mantel und Gehaltsscheck für immer verschwand, oder Mama Gleason, die 1935 an einem Karbunkel verstarb, das der Sohn aufzustechen versucht hatte, und den 19äjhrigen Jackie allein mit 60 Cents in der Tasche zurückließ.

Die Schule hatte er da längst abgebrochen und sich mit diversen Jobs durchgeschlagen, als Stuntfahrer, Marktschreier, Billardkugelpolierer und Amateur-Stand-up-Komiker. Nun zahlte ihm ein Clubbetreiber in Pennsylvania einen Vorschuß für die Busfahrkarte von New York nach Reading, wo er eine Woche lang die betrunkene Laufkundschaft so zuverlässig zum Kichern brachte, daß ein Engagement aufs andere folgte, Bühnen-, Radio- und Fernsehshows, Serien, Filme, Tourneen, Platten, was auch immer herging, bis Gleason, der jahrzehntelang fünf bis acht Schachteln Zigaretten am Tag rauchte, märchenhafte Gagen kassierte, aber nie einen Dollar in der Tasche hatte, eine legendäre Bibliothek über Parapsychologie und UFOs anhäufte (und Präsident Nixon zu diesem Thema beriet), dreimal verheiratet und zweimal geschieden war, niemals probte, sondern immer improvisierte und seine letzte von dutzenden, vielleicht hunderten Rollen 1986 neben Tom Hanks in „Nothing in Common“ spielte, im Jahr darauf an Phlebitis, Diabetes, Darm- oder Leberkrebs oder allem zusammen und diversen weiteren Krankheiten starb und in einem Mausoleum in Miami beigesetzt wurde.

Heute: erinnert die Aufschrift „How sweet it is!“ auf den Ortstafeln von Brooklyn an ihn. Und zwei Statuen als Busfahrer in der Serie „Honeymooners“ (aus dem später die Zeichentrickfigur Fred Feuerstein hervorging) an Haltestellen in Manhattan und Miami. Ein einziges Mal wurde er für einen Oscar nominiert, dreimal für einen Emmy Award, gewonnen hat er nichts. Als der Comedian Paul Lynde 1976 zum „lustigsten Mann des Jahres“ gewählt wurde, übergab er seinen Emmy dem Moderator Jackie Gleason, schließlich sei dieser „der lustigste Mann aller Zeiten“. Gleason war so schockiert, daß ihm minutenlang die Worte fehlten.

Die fehlen auch in seinen musikalischen Werken, ungefähr 60 oder 70 Alben, die er zwischen 1952 und 1972 mit diversen Orchestern, Jazzmusikern und allen möglichen Leuten einspielte oder einspielen ließ und selbst als „musikalische Tapeten“ bezeichnete. Das erste, „Music For Lovers Only“, hält bis heute den Rekord für den längsten Aufenthalt in den Billboard-Top-10 (153 Wochen!). Das zweite hören wir gerade: eine hinreißende Badewanne voller herzschmelzend schönem Kitsch-Blubberlutsch, ideal für einen schwellenden Frühlingssonntagmorgen, atmosphärisch, elegant und in seiner unvergeßlichen Belanglosigkeit so maßlos übertrieben wie das Leben des nicht hörbar beteiligten Hauptdarstellers. Der übrigens keine Noten lesen konnte, sondern seine Melodien Arrangeuren und Assistenten vorsummte und mit vielen seiner Platten angeblich überhaupt nichts zu tun gehabt haben soll … aber das ist schon wieder eine dieser vielen Geschichten, Bläschen im riesigen Schaumbad dieses einmaligen Künstlerlebens und letztlich vollkommen egal.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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