„Warum liest du das?“ frage ich das Mädchen, das am Nebentisch sitzt und ein Taschenbuch von Thomas Mann liest und dabei schaut, als wären die Buchstaben zu klein oder irgendwie frech. Über uns leuchtet der Himmel, wie er das im Februar am frühen Nachmittag tut: golden, weiter entfernt, als es scheint.
„Ich mag seine Symbolik“, sagt sie und blickt mich an wie eine überraschend erblühte Blume auf einer winterlichen Wiese.
„Oh“, sage ich und weiß nicht weiter. Eine Horde von Vögeln fliegt plötzlich auf und bildet für einen flüssigen Augenblick eine Sichel um uns, die sich als Wolke auflöst.
„Ja“, sagt sie, beugt sich zu mir herüber und hält mir das aufgeschlagene Buch vors Gesicht. „Zum Beispiel gleich zu Beginn dieser Wandersmann, der steht in seiner Wanderhaftigkeit fürs Verreisen. Und sein Blick, das ist der Tod. Der kommt dann immer wieder, der Tod: als Gondel, als Sänger mit Adamsapfel, als Hermes-Inkarnation.“
„Verstehe“, sage ich und lächle ihr direkt in die Augen: scheu, aber bestimmt; eine schlechte Angewohnheit. „Und was bringt das?“
„Es weckt Ahnungen im Leser“, sagt sie und strahlt zurück. Unter dem Nebentisch kopulieren zwei Tauben. Ich denke mir nichts dabei.
„Man ahnt“, sagt sie, „daß der Hauptperson eine Reise bevorsteht, die vielleicht tödlich endet.“
„Das“, sage ich, „würde man bei einer Geschichte, die ’Der Tod in Venedig’ heißt, natürlich nie erwarten.“
Ein weiteres Lächeln, weniger scheu diesmal, soll den despektierlichen Sarkasmus dämpfen, aber sie hat offenbar sowieso beschlossen, ihn als charmante Ironie zu interpretieren. Am Nebentisch nimmt ein junges Paar Platz und unterbricht den Geschlechtsakt der Tauben, die in entgegengesetzter Richtung davoneilen. Der junge Mann zieht einen Ring ab und massiert seinen Finger. Sie hält derweil nach etwas Ausschau, was ihr mißfallen könnte, findet aber offenbar nichts.
„Genau“, sagt das Mädchen und präsentiert mir bewundernd das Buch, als wäre es unser gemeinsames Kind. Ich stelle mir einen Fernsehkrimi vor, in dem nach zwei Minuten sehr prominent eine Windmühle und ein Doktorhut im Bild erscheinen, um zu symbolisieren, daß der Mörder niemand anderer sein dürfte als jener Doktor Müller, der im weiteren Verlauf des Films zugunsten aller möglicher Unschuldiger vernachlässigt wird.
„Das ist so spannend“, sagt sie.
„Genau“, sage ich, berühre wie zufällig mit der Zeigefingerspitze ihren Handrücken und halte Ausschau nach einer Gondel. Zum Glück fahren die den Viktualienmarkt nicht allzu oft an. Nicht mal ein Hermes-Lieferwagen ist zu sehen.
„Und was liest du da?“ fragt sie und deutet auf mein Buch.
„Pitigrilli“, sage ich. „Da gibt es leider keine Symbole. Alles kommt, wie es kommt, manchmal sehr überraschend, manchmal zwangsläufig der Logik des Lebens folgend.“
„Das hört sich eher trivial an“, sagt sie, und ich sage: „Ja, das kann sein.“
Drei Monate später wohnen wir mehr oder weniger zusammen, weil ihre WG in Freimann nachts schwer zu erreichen und tagsüber ungemütlich ist. Aus dem Vorfrühling ist ein drückend feuchter Mai geworden. Noch immer liegt das Pitigrilli-Buch auf dem Küchentisch, seit damals, als wir unser Gespräch über Thomas Mann schließlich in meinem Bett fortsetzten.
Inzwischen schreibt sie darüber eine Magisterarbeit und wird nicht müde, nach immer neuen Symbolen zu suchen. Ihre Funde füllen einen unüberschaubar großen Ordner auf unserer gemeinsamen Festplatte.
„Gehen wir ein Bier trinken?“ frage ich, aber sie hat keine Zeit.
„Ein Nagel“, sagt sie und deutet auf eine Zeile. „Könnte für einen Sarg stehen.“
„Könnte durchaus“, sage ich und gehe.
Als ich spätnachts heimkomme, liegt sie schlafend auf dem Sofa im hellblauen Strahlennebel des Fernsehers, in dem zu sehen ist, wie ein junger Forscher die Kralle einer Taube mit einem Ring versieht und sie dann fliegen läßt.
„Das ist seltsam“, sage ich.
„Oh“, sagt sie erwachend, „du bist da? Hast du gewußt, daß wir uns an Thomas Manns 108. Hochzeitstag kennengelernt haben und daß Thomas Mann heute vor 80 Jahren emigriert ist, also ungefähr?“
„Im Leben“, sage oder denke ich, „gibt es keine Symbole. Alles ist, was es ist.“
Es ist der 9. Mai 2013, seit zwei Stunden, die ich anderweitig verbracht habe. Ich rieche an meiner Hand.
„Was ist das?“ fragt sie und deutet auf den Fernseher, in dem jetzt eine mäandernde Sichel aus Vogelleibern den jungen Forscher umschwirrt und sich in ungewisser Ferne als Wolke auflöst.
„Manche davon“, sage ich nach einer unbestimmten Weile, „tragen einen Ring.“ Sie ist wieder eingeschlafen.
Als ich am nächsten Vormittag erwache, finde ich die Wohnung leer. In der Küche, auf dem Pitigrilli-Buch, liegt ein Zettel aus ihrem Taschenkalender mit dem Datum des 80. Jahrestags von Thomas Manns Ankunft in Frankreich.
„Sei nicht böse“, hat sie geschrieben. „Das bringt uns beiden nichts.“
„Genau“, sage ich laut vor mich hin und verbringe den Rest des Tages auf dem Sofa damit, das Pitigrilli-Buch zu lesen, während draußen der Regen rauscht und die Welt ertrinkt. Es ist der 120. Geburtstag von Pitigrilli, der einen Tag vor seinem 82. Geburtstag starb.
Das Buch heißt „Der falsche Weg“. „Spezialisten“, lese ich auf Seite 120, „nennen sich Gelehrte, die ihre Eselei auf ein eng begrenztes Feld beschränken.“ Und ich denke noch einmal: „Genau.“ Und ich weiß nicht, wen ich meine, aber ich weiß, warum ich das gelesen habe.
Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.