Frisch gepreßt #311: Neneh Cherry „Blank Project“

Der Jargon, in dem heutzutage über Popmusik verhandelt wird, ist wie ein ziemlich schlechter Witz, den sich tausend Leute gegenseitig erzählen, und zwar in einer Sprache, die keiner von ihnen beherrscht und von der die meisten höchstens ein paar Wörter ungefähr kennen. Darüber sollte man sich nicht beklagen, denn manchmal ist das Ergebnis recht erheiternd. Was Verben wie frickeln und schrammeln sowie die automatisch mit dem Salzstreuer im Text verteilten Adjektive von atmosphärisch bis deep, fett bis satt, nuanciert, affektiert, fein, klein, spröde, rund, kantig usw. usf. bedeuten, wird nie ein Mensch erklären oder auch nur herausfinden können, aber ein Schmunzeln mag man sich auch nicht verkneifen, wenn wieder mal ein gealterter Wollmützennerd mit päpstlichen Pathos litaneit, es werde auf einem „Werk“ dies und das und diese und jene angebliche Stilrichtung (von denen mangels Beschreibungsfähigkeit wöchentlich mindestens zehn postuliert werden müssen) nicht etwa gemischt, sondern verschmolzen, neuerdings geblendet und dabei doch stets zuverlässig versöhnt, ohne indes – das ist enorm wichtig, weil es ausnahmslos gilt – ins Irgendwiehafte oder -artige „abzudriften“.

Zum Beispiel kann von Neneh Cherry, der sicherlich begabten (eine der beliebtesten Beleidigungen) Tochter des ziemlich irren Jazztrompeters Don Cherry, niemand erzählen, ohne zu betonen, was sie in ihrem auch schon recht langen musikalischen Berufsleben so alles verschmolzen und versöhnt hat: von der Soulballade bis zum scheppernden Hinterhof-Hip-Hop, vom (immer) düsteren Trip-Hop bis No-Wave-Krach, vom Kaugummi-Popserl bis zum, freilich, hochintellektuellen Jazz. Und keiner wagt es mal festzustellen, daß das alles nicht stimmt und daß sie eigentlich immer das gleiche tut, für das es halt leider keinen (logisch!) „griffigen“ Begriff gibt, noch. Und daß sie dabei keineswegs nie, sondern immer abdriftet in Extreme, die man dann festnagelt und etikettiert.

Die 18 Jahre, die „die Welt auf ihr neues Werk warten mußte“ (der nächste Schmarrn: Wer tatsächlich gewartet hat, möge sich bitte melden), „schüren“ (puh) „Erwartungen“. Wäre „Blank Project“ das Debüt einer jungen Künstlerin, würde man es gänzlich anders hören und verstehen also so; und wenn nicht ihr Name draufstünde, käme auch kaum jemand von selbst drauf, daß dies ein Neneh-Cherry-Album ist – seien wir ehrlich: Ihre Stimme war und ist alles andere als unverwechselbar, und ein identifizierbar eigenes musikalisches Idiom hat sie bei all dem Driften, Verschmelzen und Versöhnen seit 1988 (zuletzt 2012 auf dem chaotisch-wilden Kollektivprojekt „The Cherry Thing“) nie gefunden und vielleicht auch nicht gesucht.

Weil: „good things come to those who wait“, so lautet das Schlußwort des Albums, wobei „warten“ nicht zeitlich gemeint ist (die zehn Tracks entstanden in fünf Tagen!), sondern mental, als Offenheit des Sammlers, der für alles ein Auge hat, weil man alles mal brauchen könnte, und sei es nur zum Ausprobieren. „Blank Project“ ist daher genau das: eine anfangs vollkommen leere, dann randvolle Kruschkiste mit unterschiedlichsten Fundstücken, die der Zufall zusammengebracht hat. In „Across The Water“ ist außer einem entspannten Klopfen und Cherrys Stimme nichts zu hören, im Titelstück wird das Trommeln manisch, dazu versuchen grimmige röhrende Minimalsynthesizer die Sängerin aus dem Konzept zu stören, die derweil recht ungerührt von einer ziemlich blöden, verfahrenen Beziehung erzählt.

Es knackt und zirpt viel, manchmal schweben Töne vorbei, Melodien gibt es so gut wie nichts, und wenn doch mal, sind sie ziemlich entstellt (wer seine Nachbarn nicht mag, darf gerne mal den Chorus von „Naked“ laut mitsingen). Das meiste, was dieses Album an Klang enthält, könnte man durch etwas ganz anderes ersetzen, durch fast alles andere. Pop? Null.

Das macht aber gerade den Reiz der Platte aus: ihre Zufälligkeit. Dies ist Musik, die durch den Raum staubt, perlt, rieselt und schwadet, während eine unergründlich sympathische Frau Geschichten erzählt, entspannt und gelassen. Die Emotionen, die man darunter ahnt und hin und wieder spürt, halten die Spannung, ohne sich aufzudrängen, selbst in den Passagen, wenn die Töne sich Mühe geben, bedrohlich zu wirken.

Das Paradoxe an dieser randvollen Kruschkiste ist ihre gleichzeitige Leere: In die paßt das eigene Leben des Hörers, und zwar so gut wie jedes. Ein Kritiker nannte das Jazz; Quatsch: Es ist das genaue Gegenteil, aber ich werde jetzt nicht in die Falle tapsen, einen Begriff dafür zu finden.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Kommentar verfassen

Entdecke mehr von Michael Sailers Blog

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen