Frisch gepreßt #310: Morrissey „Your Arsenal“ (Definitive Master)

Call me Unbeholfenheit: Der Junge ist von Anfang an verdorben. Wird kaum überleben, sagen die Ärzte, tut es aber doch. Aufgewachsen im grauen Staubdreck von Manchester, frühe Sechziger, ein Einzelgänger, viel zu intelligent, dazu völlig unbegabt zu Uneindeutigkeit, Unehrlichkeit, Un … unzugänglich, unzulänglich. Papa begleitet Steven aufs T.Rex-Konzert, das sein Leben prägt: Da, Bühne, will, muß er hinauf und der Welt zeigen, wie sie ist, was er ist, daß das Leben mehr ist als das, was man im grauen Staubdreck von Manchester für eine Existenz hält.

So wird er jugendlich, ohne Freunde, Kumpels, Clique, Sozialität, mit dem Traum im Kopf, der sich nicht erfüllt. Zunächst. Weil er nicht aussieht wie Jimmy Pursey, sich nicht bewegen kann wie Adam Ant, nicht Johnny Rotten, Paul Simonon, nicht mal Howard Devoto ist. The boy least likely too; daraus macht er keine Tugend, sondern eine Art Kunst – ein ungeheuer anstrengendes Aufbäumen gegen sich selbst, einem Bryan Ferry nicht unähnlich, aber ohne dessen Eleganz phantasierten Adels.

Ein zweiter spielt Gitarre, spielt unglaublich Gitarre, grundiert ihm die Leinwand, die er für die Songs braucht, in die er seinen Haß und seine Verzweiflung kotzt, „Meat Is Murder“, „Still Ill“, „Panic“; alles ist böse, und als Song klingt es so schön, so unwiderstehlich schön. Er wirft Blumen von der Bühne, die Medien schweigen entsetzt, und eines Tages sind die Smiths die neuen Beatles. Und lösen sich auf, einfach so, aus Überdruß. Es ist alles gesagt.

Dann die Solokarriere, die explosionsartig beginnt mit „Viva Hate“, den Aufschreien um „Margaret On The Guillotine“, wechselnden Co-Autoren, immer unentschiedeneren Singles, die bald nur noch in den Top 40 dümpeln. „Kill Uncle“ klingt wie vom Flohmarkt, „Piccadilly Palare“ mag er nicht bei Top Of The Pops singen, weil er den komischen Song selber nicht versteht. Sackgasse. Call Me Unbeholfenheit.

Also: finito? Popmusik ist sowieso over, Marc Bolan tot, Roxy im ewigen Winterschlaf in Avalon, Bowie von Graphikdesignern, schlechten Ideen, Produzenten und einer gläsernen Spinne massakriert. Im Moor von Saddlewood begegnet Steven einem Gespenst. „Angel, Angel, Down We Go Together“. — „Du brauchst eine Band“, sagt ein Freund, „ruf Boz an.“

Boz: Rockabillygitarrist, dritte Liga, hat mit den Polecats nie was gerissen, kennt aber paar Leute. Alain ist Straßenkehrer in Camden, Spencer hat irgendwo ein Schlagzeug stehen, Gary haust bei seinem Vater in Neasden. Und Boz und Alain wissen, um was es geht: Sie zerlegen „Hot Love“ von T.Rex und töpfern daraus einen neuen Song, und mit „Certain People I Know“ ist eine Band geboren, eine Gang, die ein paar Wochen später von einer Flutwelle manischer Hysterie durch Amerika geschwemmt wird, wie man sie tatsächlich seit den Beatles nicht erlebt hat.

Der Dreh- und Angelpunkt ist „Your Arsenal“ – kein Meisterwerk, nicht einmal ein wirklich rundes und schlüssiges Album, aber die Wurzel, auf die letztlich alles zurückgeht, was in den nächsten zwanzig Jahren passiert. Produziert von Mick Ronson, Bowies Gitarrist und Alter Ego der unbegreiflichen Ziggy-Stardust-Jahre, nein: -Wochen. Ronson ist bald darauf tot, Bowie covert „I Know It’s Gonna Happen Someday“. In Hollywood begegnen sich die beiden beim Frühstück. „Du willst das nicht wirklich essen, oder?“ fragt Steven entsetzt. Bowie betrachtet den Wurstaufschnitt auf seinem Teller: „Oh, es muß die HÖLLE sein, mit dir zusammenzuleben.“

Die Meisterwerke folgen dann, als Boz und Alain den Geist, den sie gemeinsam mit Steven geschaffen haben, gänzlich entfesseln und tun lassen, was er will, muß, kann. „Vauxhall & I“, „Southpaw Grammar“, „Maladjusted“: immer gegen alle und alles und die angebliche Welt, die ihn nicht will, im Gegensatz zu den Menschen, die begreifen. T.Rex sind inzwischen nur noch ein paar Brösel in einer Schublade; selbst der Britpopkarneval geht an ihm vorbei wie ein kleiner Schauer im Frühsommer. Eine lange Zwangspause, ohne Label, ein enervierender Prozeß, dann folgt mit „You Are The Quarry“, „Ringleader Of The Tormentors“ und „Years Of Refusal“ die Vollendung. Größer kann Popmusik nicht sein, vorläufig.

Und hier hat alles angefangen, im Sommer 1992, mit diesem Arsenal von Träumen, Verletzungen, Sehnsüchten, Enttäuschungen, von Haß, Trotz, Verachtung und nicht zu erstickender Liebe. „We Hate It When Our Friends Become Successful“, „You’re The One For Me, Fatty“ – Slogans, anyone? Und Angelhaken für gesuchtes Falschverstehen? Galore: „We’ll Let You Know“ (Verherrlichung von Fußball-Hooligans), „Glamorous Glue“ (Antiamerikanismus), „The National Front Disco“ (sowieso).

Kinkerlitzchen, längst vergessen. Manchmal aber gibt es nichts Schöneres, als noch mal von vorne anzufangen, „this time for real“ und so. Also kaufen wir uns „Your Arsenal“ ein zweites Mal und machen diesen Frühling zum wunderbarsten, den es je gab: Call Me Ewigkeit.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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