Wenn in Deutschland die Verfassung geändert wird, kriegt das der Inhaber der Staatsgewalt meistens nicht so richtig mit. Im Normalfall gibt es im Bundestag nach ein paar Plapperbeiträgen eine kurze Abstimmung, und schon ist das Einschneidendste, was es in einem Land geben kann (eben: eine Änderung der Verfassung) beschlossen. Ob damit irgendwelche Kleinigkeiten „reformiert“ werden oder der Staatsbankrott beschlossen, Menschenrechte „ausgesetzt“ oder „Verteidigung“ zur Führung von Angriffskriegen mit Atombomben umdefiniert, ist egal.
Daran haben wir uns längst gewöhnt, und wem man das erzählt, der sagt im Normalfall: „Na und? Dafür ist das Parlament doch da!“ Daß es genau dafür nicht da sein darf, ist eine Binsenweisheit, die in Deutschland – möglicherweise aus historischen Gründen – nicht zu vermitteln ist.
Interessant ist aber, daß das in anderen Ländern ganz anders läuft – und nicht unbedingt in Ländern, wo man das erwartet. In Kasachstan soll derzeit die Verfassung geändert werden; am 5. Juni fand dazu eine Volksabstimmung statt. Es geht darum, „die Macht des Staatsoberhauptes einzuschränken, die anderen Regierungszweige zu stärken und die Rolle der Bürgerinnen und Bürger im Prozeß der Staatsführung auszubauen“. Ganz ehrlich: Wer hält einen solchen Vorgang in Deutschland für vorstellbar?
Kasachstan ist ein interessantes Land. Es war einer der Hauptschauplätze des dritten Weltkriegs, von 1949 bis 1989 explodierten dort 470 Atombomben. Die Schäden dieser Verbrechen werden noch über Jahrhunderte das Leben der Menschen in den betroffenen Regionen beeinträchtigen. Kasachstan ist übrigens der größte Binnenstaat (ohne Meerzugang) der Welt und das neuntgrößte Land überhaupt. Das Verhältnis der kasachischen Ethnien (mehr als 50, darunter auch 1,1 Prozent Deutschstämmige), Sprach- und anderen Gruppen zu- und untereinander ist zu kompliziert für eine kurze Zusammenfassung. Zumal im „Westen“, wo man davon so gut wie nichts weiß und erfährt und meistensteils noch nicht einmal den Namen der aktuellen Hauptstadt kennt. Oder deren aktuellen Namen.
Sie heißt Nur-Sultan. Bis 2019 hieß sie Astana, das bedeutet „Hauptstadt“, davor Aqmola, Zelinograd und (historisch) Akmolinsk. Bis 1997 war Almaty, das bis 1993 Alma-Ata und bis 1921 Werny hieß, die Hauptstadt. Anfang Januar 2022 kam es zu einem versuchten Staatsstreich, dessen Vorgeschichte ebenfalls hochkompliziert ist, in dessen Zentrum jedoch offenbar sogenannte „dschihadistische“ Terroristen aus dem Ausland standen, die möglicherweise von westlichen Geheimdiensten ausgebildet und gesteuert wurden. Man weiß das alles, wie bei Stellvertreterkriegen üblich, nicht so genau.
Der Artikel des „Wikipedia“-Blogs über Kasachstan enthält einen Abschnitt „Menschenrechte“, in dem zu lesen ist, in Kasachstan sei „die Menschenrechtslage angespannt“, was eine typische Nullfloskel der westlichen Propaganda ist. „Jedoch“ habe das Land „in den letzten zehn Jahren nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes (Stand 2012) begrenzte Fortschritte auf dem Weg zu einem Rechtsstaat gemacht“. Gemeint sind die zehn Jahre, in denen der Rechtsstaat in Deutschland weiter beschädigt, eingeschränkt und seit 2020 vollständig abgeschafft oder vielmehr in einen Doppelstaat umgewandelt wurde.
Es soll dort Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlungen oder Strafen geben. Was sich hinter den abstrakten Begriffen verbirgt, kann ich nicht beurteilen. Vermutlich sind es wenigstens andere Tatbestände als das, was in Deutschland an Folter und anderen grausamen, unmenschlichen und erniedrigenden Behandlungen seit einiger Zeit gängig ist. „Das Land“, berichtet „Wikipedia“ ohne Quelle und unter Berufung auf einen namenlosen UN-Sonderberichterstatter, „verberge das volle Ausmaß der Folter und anderer Mißhandlungen in seinem Haft- und Gefängnissystem weiterhin.“ Daß ähnliches für Deutschland gilt, hat unlängst ein UN-Sonderberichterstatter für die „Corona“-Zeit festgestellt, und zwar mit Namen und Quellen.
„Korruption und politische Intervention im Rechtsbereich“, heißt es weiter, seien „an der Tagesordnung“. Auch dies gilt für beide Länder, zumal in Deutschland ungewöhnlicherweise Staatsanwälte grundsätzlich weisungsgebunden sind und Verfassungsrichter vor Verfahren gegen die Regierung mit dieser zu Abend tafeln und sich über das von Regierungsseite gewünschte Vorgehen instruieren lassen.
„In Strafverfahren“, berichtet „Wikipedia“ weiter, „werden häufig Verfahrensregeln verletzt.“ Welches Land damit gemeint ist, darf man offenlassen. Es könnten ziemlich viele sein. Der folgende Satz – „Reformanstöße von innen und außen werden zögernd angenommen und umgesetzt“ – paßt allerdings nicht auf Deutschland. Hier werden „Reformanstöße“ von innen stets sofort umgesetzt, wenn sie von den Mächtigen kommen und den Ohnmächtigen schaden. „Reformanstöße“ von außen hingegen verbittet man sich. Wir wissen schon selber, wie man herrscht!
Und nicht zuletzt sei in Kasachstan „die Meinungsfreiheit stark eingeschränkt“. Was das angesichts der derzeitigen Zensurexzesse im „Westen“ bedeuten könnte, mag ich mir nicht ausmalen.
Was man daraus lernt: Die Welt ist kompliziert. Um sie zu verstehen, muß man sich mit ihr beschäftigen, eine Parteinahme vermeiden und akzeptieren, daß man sie nicht verstehen wird.
Ich bin vorgestern zufällig am Theatron im Olympiapark vorbeigekommen. Es war vier Uhr nachmittags, um halb fünf sollte ein Konzert stattfinden. Ich radelte auf dem Weg von der Wiese zu einem Seitenzugang (auf dem Bild in der Mitte links) und wollte vom Rand aus schauen, was es da so gibt. Kaum war ich auf dem vier Meter breiten Weg stehengeblieben, stürmten zwei uniformierte Damen auf mich zu und forderten, ich dürfe da nicht stehen, die Veranstaltung gehe gleich los. Ich fragte, wieso. „Das ist ein Fluchtweg, der muß freibleiben!“ Ich schaute über die Schulter der bellenden Dame ins Theatron: Da saßen elf Leute, zwei Kinder hüpften herum. „Fluchtweg?“ fragte ich. „Für wen?“ Die Dame bellte: „Für die Leute, die gleich kommen!“
Ich hatte keine Lust zu streiten und radelte weg. Eine Viertelstunde später fingen im Olympiastadion neben dem Theatron die Rolling Stones an zu lärmen. Das ist an sich erfreulich (außer für die Vögel im Münchner Norden), aber die Idee, mitten in diesem Krach ein Konzert mit „aufstrebenden Acts“ zu veranstalten und dafür „Fluchtwege“ freizuhalten, erschien mir irgendwie komisch, zumal das Olympiagelände um das Theatron herum mit gefühlt 100.000 Menschen gefüllt war. Sollten die etwa ins Theatron flüchten?
Zwei Minuten vor halb fünf bin ich noch mal am Theatron vorbeigeradelt, diesmal von der anderen Seite und ganz unten. Vor der Bühne standen Absperrgitter und eine sehr unfreundlich blickende uniformierte Frau (nicht im Bild und keine der beiden von vorhin). Da Konzerte heutzutage pünktlich anfangen, blieben noch zwei Minuten bis Konzertbeginn. Inzwischen hatte sich das Theatron mit 43 Leuten gefüllt. Ich bin dann heimgefahren, weil mir die Rolling Stones zu laut waren. Um 16 Uhr 33 begann das Gewitter mit Platzregen, Blitz und Donner. Ob dafür ein Fluchtweg gebraucht wurde, weiß ich nicht.
Das alles ist nicht weiter wichtig und bleibt mir nur im Gedächtnis, weil ich mich aus meiner Jugend an Konzerte im Theatron erinnere. Damals spielten dort jeden Sonntagnachmittag zwei bis drei Bands (manchmal auch abends, wenn eine Band eine Lichtanlage dabeihatte). Es gab keine Bühne, keine Absperrungen (nur hin und wieder ein Gitter vor den Musikern und ihren teuren Instrumenten), kein Dach, keine Sicherheitsleute, nur eine PA-Anlage und einen Veranstalter, einen sehr sympathischen, etwas älteren (sagen wir: 30) Hippie, der die Leute begrüßte und sie informierte, wenn mal wieder eine Band auf der Autobahn hängengeblieben war (was er meistens nur vermuten konnte, weil es keine Mobiltelephone gab) oder angefragte Bands skurrile Ideen hatten (die Scorpions forderten geheizte Garderoben).
Das Theatron war an diesen Tagen so gut wie immer bis zum Rand (und oft weit darüber hinaus in die Wiesen und aufs Olympiadach) voll besetzt, oft fand man nur nach langem Suchen einen einigermaßen guten Platz. Zwischen den Bands (die Umbaupause dauerte gerne mal länger als eine Stunde) vergnügte man sich, indem über der Menschenmasse Frisbeescheiben herumflogen – und manchmal auch Eier, die aus großer Distanz aufgefangen werden sollten, ohne zu zerbrechen, was erstaunlich oft unter großem Beifall gelang.
Ich erzähle das ohne Absicht, nur aus einer nostalgischen Rührung heraus. Die Bands, die dort spielten, waren nicht immer gut. Manch amateurhaftes Gedudel nahm man freundlich und nachsichtig hin und verzichtete dann halt auf eine Zugabe (die sowieso nicht üblich war). Fiel der Beifall unerwartet groß aus, sah man auch mal einen Musiker erröten. Manchmal explodierte im schattenlosen Sonnenbrand oder im strömenden Wolkenbruch eine Endstufe, und der Versuch einer Gruppe aus Hannover, einen Song gegen den Krieg mit der Entzündung von Rauchbomben zu untermalen, führte zu einem kollektiven Hustenanfall. Eine Band namens Nation (englisch gesprochen) machte sich mit billigem Hardrock und Animationsversuchen unbeliebt und mußte ihren Auftritt nach drei Songs abbrechen, weil das Pfeifkonzert lauter war als die Verstärker. Einmal purzelte ein notorischer Dauerbetrunkener, den wir „Hacki“ nannten, in spektakulärer Manier die gesamte mittlere Steintreppe hinab, wurde aber immer wieder von dort sitzenden Menschen unfreiwillig gebremst, ehe er weiterpurzelte, und zog sich bei dem unterhaltsamen Akt eine Platzwunde zu, die einer der beiden anwesenden Sanitäter mit einem Pflaster verarztete. Alles nicht so schlimm, und als zum Ende eines Auftritts von Guru Guru deren Schlagzeuger die gesamte Menschenmenge aufforderte, zum zehnjährigen Bandjubiläum ein gemeinsames Bad im Olympiasee zu nehmen, und tausende Leute in völliger Dunkelheit ins Wasser strömten, nahm zwar der dort eingebaute Springbrunnen Schaden, aber kein Mensch, und einen „Fluchtweg“ gab es wohl nicht.
Heute sind solche anarchistischen Zustände nur noch in 9-Euro-Eisenbahnzügen möglich. Dabei ist allerdings zu bedenken, daß ein Theatron nicht entgleisen kann, zumindest nicht so leicht.
Zwischendurch Lehren aus einer unerträglichen Fernsehpropagandasendung: 1.) Der Krieg in der Ukraine muß militärisch gewonnen werden. 2.) Der Krieg in der Ukraine kann militärisch nicht gewonnen werden, es muß eine Verhandlungslösung geben. 3.) Um diese Verhandlungslösung herbeizuführen, muß der Krieg durch Waffenlieferungen verlängert werden. 4.) Die Ukraine darf bei den Verhandlungen keine Angebote machen. 5.) Wer die Absurdität und Idiotie solcher „Gedankengänge“ unironisch aufzeigt, muß niedergebrüllt werden, um den Zuschauern klarzumachen, daß es so nicht geht. 6.) Wer das ironisch tut, möglicherweise ebenfalls; wir werden es sehen.
Ein Leser hat mich freundlicherweise darauf hingewiesen, die Schreibweise „Donbaß“ sei streng genommen nicht richtig; es müsse „Donbass“ heißen, weil es sich um eine Abkürzung von „Donez-Bassin“, mithin ein Fremdwort handle. Ein Doppel-s am Wortende ist mir seit der Sprachreform vor mehr als zwanzig Jahren suspekt, daher habe ich nachgeschaut und mit Staunen festgestellt, daß das Wort in keinem meiner Wörterbücher zu finden ist. Aber im Lexikon: laut Brockhaus heißt die Gegend Donbas. Das ist die Transkription der ukrainischen Schreibung, die russische lautet tatsächlich „Donbass“ (weil es im Russischen kein ß gibt). Ich könnte mich jetzt auf eine Verdeutschung berufen und darauf hinweisen, daß es in der von mir bevorzugten Version der deutschen Sprache kein ss am Wortende gibt. Oder sämtliche Einträge dieses Blogs, in denen das Wort vorkommt, korrigierend ändern, um nicht wegen der verdeutschten russischen Schreibung schon wieder als „Putinversteher“ beschimpft zu werden. Am liebsten ist mir noch, dies als Beispiel für den manchmal schwierigen Umgang mit Fremdwörtern zu nehmen, die alten Schreibungen stehenzulassen und zukünftig die verdeutschte ukrainische zu bevorzugen, weshalb auch immer, aber selbstverständlich ohne damit eine Parteinahme zu symbolisieren.
Wir müssen auch noch mal über „Corona“ reden. Nachdem alle, wirklich alle „Verschwörungstheorien“ aus der Anfangszeit der neuen Epoche mittlerweile als gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse oder wenigstens plausible Thesen gelten dürfen, bleibt die Frage, was mit den M(edienm)enschen geschehen soll, die uns zwei Jahre lang wie irrgewordene Prediger eingebrüllt haben, es handle sich dabei um „Verschwörungstheorien“ und „Verschwörungsmythen“ (und zwar ausschließlich „krude“). Sollen wir uns wirklich von diesen Leuten künftig erklären lassen, was bei einem Spiel des TSV 1860 oder einer Jahresversammlung der Freiwilligen Feuerwehr von Hinterhuglhapfing geschehen ist? Man kann denen doch nicht einmal mehr das Spielergebnis „glauben“.
Können wir nebenbei bitte endlich die „zukunftsorientierte Politik“ abschaffen und eine gegenwartsorientierte Politik einführen?
(Einige Theatronbilder stammen von der Webseite von Nick Woodlands Band Sahara, vormals Subject Esq., die ich im Theatron leider nie, anderswo aber immerhin einmal gesehen habe. Auf der Sahara-Seite finden sich neben den Photos von Stephan f. Schneider und Ulrich Handl noch viele weitere sehr schöne. Auf einem anderen Bild bin ich selbst zu sehen.)
an der Donezker Oper wird der Osmin von einem Donbasbaß gesungen