Belästigungen 23/2019: Menschheit, Menschlichkeit und der große Knall

Es ist manchmal schwer mit den Begriffen. Zum Beispiel dieses Teil fürs Klo, bei dem man dann, wenn man es braucht, nie weiß, wie es heißt. Hinterher fallen einem tausend Namen dafür ein, Pömpel, Fluppi, Strempfler, Plunscher, Planscher, Plömpel, Plöppel, Prömpel und so weiter – aber wenn man einmal „Pimmel“ sagt, ist man schlagartig in einer ganz anderen Geschichte.

Schlimmer ist es bei Begriffen, die von Haus aus zweideutig sind, wie das englische Wort „humanity“. Das heißt „Menschheit“, aber auch „Menschlichkeit“, weshalb beim Übersetzen mal was daneben gehen kann. Dann kommt ein so grundfalscher und dummer Schmarrn wie „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ heraus, und weil der Mensch ein Plappertier ist, plappert er den nach und fragt sich gar nicht erst, ob das nicht ein Riesenquatsch und jedes Verbrechen generell ein Verstoß gegen die Menschlichkeit ist (was aber auch nur stimmt, wenn man eine bestimmte Form von Menschlichkeit meint und nicht die allgemeine, die etwa in dem Sprichwort „Irren ist menschlich“ drinsteckt).

Neulich hat der World Wildlife Fund in seinem „Living Planet“-Report festgestellt, daß allüberall Ökosysteme zusammenbrechen, die wildlebenden Tierarten seit den 70er Jahren um 60 Prozent zurückgegangen sind und mittlerweile sogar der Mensch akut vom Aussterben bedroht ist. Schuld daran sei die „humanity“ und ihr Konsum.

Da denkt freilich niemand an eine Menschlichkeit. Höchstens an die erwähnte allgemeine: Es sei eben menschlich, Wachstum anzustreben und alles kaputtzumachen; da könne man auch gar nichts tun.

Und schon steckt man im schönsten Denkfehler fest. Es ist nämlich keineswegs die „Menschheit“ schuld am Untergang der Welt, die wir kennen. Den besorgten Leuten vom WWF ist nur der richtige Begriff nicht eingefallen. Der lautet Kapitalismus. Und von dem sind viele Angehörige der Menschheit gar nicht betroffen – oder nur als Opfer. Daß der WWF das nicht weiß, mag man ihm nicht unterstellen. Eher vergißt man bisweilen, daß die Menschheit viele Jahrtausende lang ohne Kapitalismus zurechtgekommen ist. Das geht so weit, daß sich viele Menschen heute tatsächlich eher den Weltuntergang als eine Welt ohne Kapitalismus vorstellen können.

Hin und wieder behauptet jemand, der Kapitalismus stecke in der Krise. Noch so ein Denkfehler – so simpel und dumm, daß man sich fragt, wie es immer wieder jemand fertigkriegt, derart vernagelt zu sein.

Nehmen wir als Beispiel einen riesigen Meteoriten, der durch Zufall in die Bahn der Erde gerät und auf sie draufknallt, wodurch 90 bis 99 Prozent aller Lebewesen ausgerottet werden: Da würde auch niemand zehn Minuten vor dem Einschlag behaupten, der Meteorit sei in eine Krise geraten und müsse reformiert werden oder so was. Der Meteorit IST die Krise, ebenso wie der Kapitalismus die Krise IST.

Das Argument, so ein Meteoriteneinschlag sei ein natürlicher Vorgang und entziehe sich unserem Einfluß, außerdem gehe das Ausrotten beim Kapitalismus viel langsamer, zieht hinten und vorne nicht: Der Mensch ist Teil der Fauna des Planeten, somit alles, was er anzettelt, grundsätzlich natürlich, auch wenn daran evolutionär unlogische Wesen wie Autos und Geld beteiligt sind. Und zwar tobt der kapitalistische Akkumulations- und Vernichtungsprozeß seit bald 300 Jahren und ist immer noch nicht ganz vollendet – aber nach einem Meteoriteneinschlag dauert es erfahrungsgemäß auch ein paar Jahrhunderte oder noch viel länger, bis zum Beispiel Großdinosaurier und Ammoniten endgültig das Handtuch werfen.

Bleibt als populäres Unterscheidungsmerkmal der „große Knall“, den immer mal wieder jemand auch dem Kapitalismus prophezeit, sei es wegen Waldsterben, Autoverkehr, Klimawandel, Wassermangel, Luftverschmutzung, Recourcenschwund, Beton, Bodenversiegelung, Armut und Reichtum, radioaktiven Meeren, Finanzkrisen oder was auch immer – die Mode wechselt alle paar Jahre. Das hat einen ganz simplen Grund: der angekündigte „große Knall“ bleibt jedesmal aus. Deshalb verpufft die Erregung genauso schnell, wie sie sich aufgebauscht hat, und schon treibt man die nächste Sau durchs Dorf.

Dahinter steckt einerseits eine Wahrnehmungsstörung: Wenn „plötzlich“ das Klima gefährliche Faxen treibt (oder man das bemerkt), hören deswegen ja die Bodenversiegelung und die Verseuchung der Meere nicht auf, gibt Nestlé das geraubte Wasser nicht zurück und nimmt auch der mörderische Autoverkehr nicht plötzlich ab. Wir haben nur vorübergehend keine Zeit, uns drum zu kümmern, weil wir alle Energie in den „Kampf für das Klima“ stecken, bis uns auch das in seiner ganzen Vergeblichkeit wieder langweilig wird.

Zweitens ist es mit dem „großen Knall“ beim Kapitalismus halt nicht ganz so wie beim Meteoriten: Er dauert ein bisserl, und wenn wir die oben genannten Schäden und Zerstörungen (und sämtliche anderen, von denen wir wissen) zusammenrechnen, stellen wir fest, daß der Knall höchstwahrscheinlich längst im Gange ist. Was nicht heißt, daß zum Beispiel Erdöl und sauberes Trinkwasser auf einen Schlag weg sein werden. Sie werden nur immer rarer und immer teurer und für immer weniger Menschen erschwinglich. Um die Verteilungskämpfe im Rahmen und unter Kontrolle zu halten, werden die Ordnungskräfte (Polizei, Militär, „private“ Sicherheitsdienste und Kampfbünde) mit immer wuchtigerer Gewalt vorgehen müssen, und es wird ihnen immer öfter mißlingen, ohne daß sie auf ganzer Front scheitern. Knallen wird es da und dort, immer öfter und immer vielfältiger, aber nie insgesamt und total – es sei denn, ein paar Wahnsinnige kommen doch noch auf die Idee, die Frage der Verfügung über die Restresourcen mit Atomwaffen zu klären.

Und freilich: Eines Tages ist der Knall dann auch wieder vorbei. Das wird aber aus anderen Gründen kaum mehr jemand mitbekommen.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint in gekürzter Form alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Eine Antwort auf „Belästigungen 23/2019: Menschheit, Menschlichkeit und der große Knall“

  1. Letztens war bei Jung und Naiv ein Interviewgast (Unionspolitiker, wenn ich mich recht entsinne), der behauptete es gäbe gar keinen Kapitalismus mehr. Den habe es nur bis Anfang des 20. Jahrhunderts gegeben. In Deutschland hätten wir die Soziale Marktwirtschaft, sagte er. Und die sei ja ganz anders.

    Bei dem hat es auch schon richtig geknallt, nämlich im Kopf.

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