Belästigungen 14/2019: 400.000 Neumünchner in drei Sekunden (und dann ist die Zukunft aus)!

Haben Sie schon mal einer Katze zugeschaut, wie sie über die Zukunft nachdenkt? Höchstwahrscheinlich nicht. Für eine Katze beginnt die Zukunft jetzt und endet in drei Sekunden. Wenn eine Maus an einer Katze vorbeiläuft, haut die Katze drauf, aber wenn die Maus in einer – sagen wir mal – Mäusetrambahn hinter einer Wand mit zwei Türen im Kreis fährt und die Katze die Trambahn erst durch ein Türl, dann durch das andere sieht (immer eine Sekunde zu spät zum Draufhauen), dann kommt die Katze in tausend Jahren nicht auf die Idee, gleich beim zweiten Türl zu lauern.

Aber immerhin: drei Sekunden. Wenn ein Büchsenöffner betätigt wird, sogar bis zu dreißig Sekunden!

Vögel sind ein bisserl weiter. Krähen zum Beispiel können zumindest konsekutiv mehrere Minuten in die Zukunft denken: Wenn ich eine Nuß auf die Straße lege und ein Auto drüberfährt, dann kann ich sie essen, ohne mir die Mühe zu machen, die Nuß selber zu knacken. Und wenn ich in einen Mechanismus ein Steckerl hineinstecke und die Klappe öffne, hinter der der Schlüssel liegt, mit dem ich die Futterkammer aufsperren kann, dann kommt der Forscher daher und füllt die Futterkammer mit neuem Futter. Eine ganz schöne Intelligenzleistung!

Der Mensch hingegen: völlig hilf- und schimmerlos. Der haut ein Loch in den Boden, da kommt Öl raus, das zündet er an, sieht, daß es brennt und man Plastik draus machen kann, und baut sich ein Auto und eine Plastikfabrik. Weil wahrscheinlich sogar eine Katze weiß, daß eine Futterdose, die leer ist, sich nicht von selber wieder füllt, weiß prinzipiell auch der Mensch, daß die große Öldose unter der Erde irgendwann leer ist. Das ist ihm aber egal – er baut immer größere und immer mehr Autos und Plastikfabriken, faselt zwischendurch was von Nachhaltigkeit und denkt, daß er ja dann, wenn irgendwann wirklich kein Öl mehr da ist, seine Autos mit Strom betreiben kann, den er mit Solarzellen in beliebiger Menge produziert.

Eine Krähe würde sich sofort wundern: Ja, wieso gibt es denn dann Stromautos nicht schon viel länger als die anderen mit Benzin? Wieso war nicht schon im späten Mittelalter ganz Oberbayern mit Solarzellen zugepflastert? Simple Antwort: Weil man gewaltige Mengen Öl braucht, um Solarzellen und Stromautos herzustellen und zu betreiben. Drum gab es vor dem Öl keine Stromautos und Solarzellen, und drum wird es nach dem Öl auch sehr bald keine Stromautos und Solarzellen mehr geben.

Ein Mensch kann so etwas aufgrund seiner Sub-Katzen-Gehirnstruktur nicht kapieren. Deswegen macht er dauernd Zukunftspläne, die sich gar nicht so schnell in Schall und Rauch auflösen können, wie die nächsten daherkommen. Und deswegen denkt er dermaßen unlogisch und dumm, daß sein unsinniges Treiben sämtliche Katzen in seiner Umgebung so ermüdet, daß sie dauernd schlafen müssen, und die Krähen vor lauter „Bäh!“-Geschrei in fünfter Generation heiser sind.

Meistens geht es dabei um Wachstum. Weil der Mensch im Gegensatz zu den meisten anderen Lebewesen nicht einsehen kann, daß jedes Wachstum seine Grenzen hat und dann unmittelbar in rapide Schrumpfung übergeht, meint er, alles, was ihn betrifft, könne und müsse immer weiterwachsen. Tut das Universum ja (wahrscheinlich) auch, gelt!

Ein schönes Beispiel dafür sind Städte. Solche wie München, wo sich derzeit etwa 1,45 Millionen Menschen tagtäglich in U-Bahnen, Trambahnen und Busse quetschen, im Stau sitzen, auf Bürgersteigen und Freizeitrennstrecken über den Haufen rennen und in Schlangen stehen, um Lebensmittel zu kaufen und 1,45 Millionen Internetbestellungen bei der Post abzuholen bzw. zurückzuschicken.

Bis 2040, meinen die „Planer“ im zuständigen Stadtrat, sollen das 1,85 Millionen Menschen tun – und freilich ist nicht gemeint, daß diese Massen das „bis dahin“ tun und sich dann größtenteils wieder verzupfen sollen. Sondern daß das so weitergeht, unaufhaltsam und in alle Ewigkeit: 2060 wären es demnach vielleicht drei Millionen, 2100 locker acht; und daß uns jetzt Lebende diese epochale Katastrophe nichts mehr angehen wird, schwingt als Hintergedanke selbstverständlich immer mit. Irgendwer wird „bis dahin“ schon eine technische Innovation erfinden. Hochhäuser, die bis in die Stratosphäre reichen. Oder unterirdische Wohnbatterien bis in den Erdmantel hinein (wo immerhin keine Ölheizungen mehr nötig wären). Sonst reißen wir halt nach der Eggartensiedlung auch noch den Perlacher Forst und die Alpen ab.

Weil die Leute ja zwischen Feierabend und Arbeitsbeginn irgendwo unterkommen müssen. Und weil sie in die Arbeit kommen müssen und sämtliche öffentlichen Verkehrsmittel jetzt schon restlos überlastet sind, braucht es dafür im Jahr 2040 mindestens 300.000 neue Autos auf den jetzt schon verstopften Straßen. Klar, die Neuen könnten auch radeln. Aber von Aubing, Lochhausen und Langwied – wo es 2040 etwa 20.000 neue Wohnungen für 45.000 neue Aubinger, Lochhausener und Langwieder geben soll – kommt man zumindest im Winter nicht so leicht in die neuen Zonen der Dienstleistungsausbeutung und Hochtechnologie. Wobei die Vorstellung, wie jeden Tag 1,85 Millionen Radler die Leopoldstraße und den Isarradweg entlangbrausen, schon was Lustiges hat. Könnte außerdem sein, daß sich die Stadtbevölkerung auf diese Weise sehr nachhaltig dezimiert.

So oder so: Es wird die Hölle auf Erden – eine Hölle, die sich ein Hieronymus Bosch noch nicht mal in Ansätzen vorstellen hätte können und auf die sich heutige Stadtplaner und Immobilienspekulanten orgasmisch freuen. Ebenso wie die Großgastronomen übrigens: Da in sämtlichen Münchner Vierteln die Kneipen sterben wie die Fliegen und den Insassen der neuen Unterkunftsmaschinen höchstens mal ein „Café“ oder ein „Bürgertreff“ zugestanden wird, dürften Bierzelte und Großraumdiscos für 100.000 und mehr Leute bald keine Horrorvision mehr sein, sondern pure Notwendigkeit.

Aber Moment: War da nicht was mit dem Öl? War da nicht was mit den Solarzellen und elektrischen Autos und Fahrrädern, überhaupt mit der gesamten Energie und dem Verkehr und dem Plastik und dem Müll und den Abgasen und all diesen Sachen? Ähem.

Ach was. Für derartige Kinkerlitzchen interessiert sich doch höchstens jemand, der zumindest ein paar Sekunden in die Zukunft denken kann. Und solche Lebensformen sind in Stadträten extrem selten zu finden, schon gar nicht in Ausschüssen, wo es um „Planung“ geht und wo man sich hauptsächlich damit beschäftigt, zu beweisen, daß mit dem Hirntod zumindest das politische Leben noch lange nicht zu Ende sein muß.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Aus aktuellem Anlaß auch hier noch einmal die Petition zur Eggartensiedlung.

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