In letzter Zeit ist mir aufgefallen, daß die Leute, deren Job es ist, unsere Meinungen zu „bilden“ und uns ideologisch bei der neoliberalen Stange zu halten, kaum mehr einen Satz aussprechen können, ohne als verbale Interpunktion die Phrase „Stichwort Digitalisierung!“ hinterherzubellen. Was sie zuvor an „Info“ o. ä. ausgestoßen haben, erhält dadurch irgendwie eine ganz andere Schattierung. Zum Beispiel: „Die Arbeitswelt wandelt sich. Stichwort Digitalisierung!“
Sagte man statt dessen: „Die Arbeitswelt wandelt sich. Arbeiter werden immer rücksichtsloser und brutaler ausgebeutet und ihrer Lebenszeit und des Ertrags ihrer Schufterei beraubt“, käme das zwar einer inhaltlich wie sprachlich sinnvollen Aussage wesentlich näher, aber als Propaganda für den Wirtschaftsfaschismus ist derartiges (wie die meisten sinnvollen Sätze) nicht
zu gebrauchen.
Derartige sprachliche Zwangshandlungen sind spätestens seit der Erfindung der Fernsehreklame, in der so was besonders oft vorkam („Da weiß man, was man hat! Guten Abend!“), keine Seltenheit. Wahrscheinlich gab es sie aber schon früher. Ich weiß, wie das ist, weil ich selber mal von so einem Virus befallen war: In der dritten oder vierten Grundschulklasse konnte in meiner gesamten Peer Group plötzlich niemand mehr einen Satz aussprechen, ohne ein „Hey!“ dranzuhängen. Also nicht „Ich schraub mir jetzt ein Dolomiti in den Hals und check ins Michaelibad!“, sondern „Ich schraub mir jetzt ein Dolomiti in den Hals, hey, und check ins Michaelibad, hey!“ Damals, in den Zeiten vor Whatsapp und Facebook, wurde viel geredet, vor allem im Unterricht, und so schafften wir an guten Tagen mühelos bis zu tausend „Hey!“s.
Eltern, Lehrer und Kollateralbetroffene erlitten einen Nervenzusammenbruch nach dem anderen und flüchteten sich in wüste Drohungen: „Wer noch einmal Hey! sagt, fliegt an der nächsten Ampel naus!“ hieß es zum Beispiel auf einer Fahrt an den Starnberger See mit meinem Freund H bereits nach zwei Minuten, als wir noch nicht mal die Grenze zwischen Ober- und Untergiesing überquert hatten.
In Possenhofen saßen immer noch alle fünf Besatzungsmitglieder im Opel Rekord: eine kopfschüttelnde, vor Überdruß schlotternde Mutter, ein Vater, der innerhalb der ersten Viertelstunde Fahrt seinen gesamten Nachmittagsbiervorrat in sich hineingeschüttet hatte, um im Trommelfeuer des Hey!-Hey!-Hey!-Kichergeplappers keinen Schlaganfall zu erleiden, und drei Rotzlöffel, die ebenso hilflos waren. Weil man so was, wenn man‘s sich erst mal angewöhnt hat, genauso leicht wieder los wird wie eine Warze am Zeh oder eine fünfzehnjährige Heroinsucht: Es geht, aber es erfordert Vernunft und dauernde Aufmerksamkeit. Und wie jedermann weiß, hat ein durchschnittlicher Neunjähriger alle möglichen Fähigkeiten und Talente.
Aufmerksamkeit und Vernunft gehören aber ganz bestimmt nicht dazu. Es kostete uns ein gutes Jahr, die Hey!-Gewohnheit durch eine neue, in Elternaugen noch wesentlich schadhaftere und schädlichere zu ersetzen (die Donald-Duck-Infinitivsprache: „Ich gestern: lern, spiel, Musik hör! Schluck, Hausaufgabe vergessen hab! Eh total scheiße sei! Sonne schein! Baden woll! Lehrer deppert sei! Einfach blau mach!“).
Damit sei klargestellt, daß ich mir keine Sorgen um die Degeneration der deutschen Sprache durch kindliche Plappermoden mache. Ich glaube nicht, daß es für Zustand und Qualität eines Idioms oder Dialekts von großer Bedeutung ist, ob man „geil“, „cool“, „hübsch“, „groovy“, nice“ oder „dufte“ sagt. Daß praktisch die gesamte neu erschienene deutsche Literatur der letzten zwanzig Jahre ein einziger See von hirnloser, legasthenischer Gülle ist, könnte da schon eher eine Rolle spielen, aber mei: Außerhalb einschlägiger Seminare liest den Seim ja sowieso kein Mensch. Stichwort Digitalisierung!
Sorry, das ist mir jetzt rausgerutscht, hey! Aber vielleicht sollte ich‘s mir angewöhnen. Nämlich stelle ich fest, daß die Leute, die an jeden Satz ein „Stichwort Digitalisierung!“ dranhängen, dabei zwar hirnlos, aber auch ziemlich fröhlich wirken. Und wenn ich mich recht erinnere, waren wir in Zeiten von „Hey!“ und „Bumm! Explodier! Scheibe einschieß! Hausmeister durchdreh!“ auch meistens ziemlich fröhlich. Also: Was soll‘s! Stichwort Digitalisierung!
Blödphrasen wie diese haben zwei enorme Vorteile. Erstens: Sie passen immer und können notfalls als sinnlose, aber prägnante Rechtfertigung dienen: „Wir müssen Ihren Arbeitsvertrag kündigen! Stichwort Digitalisierung!“ – „Schatz, ich komme heute nicht nach Hause! Stichwort Digitalisierung!“ – „Geben Sie mir Ihr gesamtes Geld! Stichwort Digitalisierung!“ – „Mir egal, ob Sie diesen Sitzplatz reserviert haben! Stichwort Digitalisierung!“ – „Leider haben wir kein Bier mehr! Stichwort Digitalisierung!“
Und zweitens: Wenn man die Blödphrase oft genug ausstößt, merkt niemand mehr (man selber schon gar nicht), daß sie absolut keinerlei Sinn, Bedeutung, Inhalt und Aussage hat und absolut niemand auch nur ansatzweise erklären könnte, was „Digitalisierung“ eigentlich sein soll. Einziger Nachteil: Irgendwann wird‘s langweilig. Aber dann finden wir schon was neues, was der gleiche Bullshit ist, genauso bescheuert klingt, ebenso fröhlich macht und denselben Zweck erfüllt. Wie wär‘s zum Beispiel mit „Stichwort Sockenwurst“, „Stichwort Grunzglocke“, „Stichwort Hans Georg Bing“ oder „Isarkanalisierung, hey!“?