Frisch gepreßt #424: Anna Calvi „Hunter“

Die Tragödie, das wissen wir aus dem Schulunterricht, ist die Mutter der Farce. Was historiographisch bedeutet: Alles kehrt zurück, aber dann eben als „derbes, komisches Lustspiel“, wie das Lexikon meint. Als „Posse“.
Das stimmt manchmal nicht. Die Farce nämlich ist bisweilen etwas anderes, Kulinarisches: eine raffinierte „Füllung“ (so die französische Wortbedeutung), die aus einer Speise erst das macht, was sie ist oder ihr mindestens Würze, Esprit, Feinheit, Schärfe, Tiefgang, Süße, Bitternoten, Aroma und mancherlei weitere Details hinzufügt.

Die Tragödie wiederum hat bei Anna Calvi mehrere Facetten: Ihr epochales erstes Album von 2011 ist zweifellos ein Inbegriff des Tragischen, so überrandvoll mit tobenden, taumelnden, zerbrechenden, auf einem dünnen Seil über unfassbaren Abgründen tanzenden Emotionen, mit Schrecken, Hitze, Eis und Verführung, daß es unbedarft frohsinnige Menschlein überfordern, ja erschlagen kann. Wer indes die anderen, die dunklen Seiten des Lebens kennt, sich zum Volk der Verlassenen, Einsamen, Unbeachteten, Verwundeten zählt, für den ist die Platte nach wie vor und für alle Zeiten ein unerschöpflicher Quell von Stolz, Kraft, Trost, intensivsten Emotionen und erotischem Selbstmitleid, der alles ähnliche überstrahlt und in der Popmusikgeschichte ziemlich allein dasteht. Hinzuzufügen, so schien und scheint es, ist dem nichts.

Tragödie zwei: „Anna Calvi“ hatte damals einigen Erfolg, erntete Preise, erreichte hier und da die Top 40, in Frankreich, wo man offenbar tiefer fühlt, sogar die Top 20. Trotzdem wird der wahre Liebhaber nie verstehen, wieso ein Album, das mindestens vier Songs für die Ewigkeit enthält (sagen wir: „Desire“, „Blackout“, „Suzanne & I“, „Morning Light“, mindestens), nicht mindestens 400 Millionen Menschen gekauft haben.

Nach dem „intimeren“ (oder sagen wir: etwas unerheblichen) zweiten Album „One Breath“ von 2013 (das seine Stärken hat, zweifellos, aber wie soll es die im Schatten des Debüts deutlich zeigen?) folgten fünf Jahre Pause. Und jetzt: das dritte. Eine Farce?

Ja, in gewisser Hinsicht, und auch das ist tragisch: Unbedarft frohsinnige Menschlein (von denen es aufgrund fortgesetzter Beschallung mit Plastikmuzak heute ein paar Millionen mehr geben dürfte als 2011) werden vor der Platte stehen wie der Ochs am Berg und nichts verstehen. Ein hymnischer Ohrwurm wie „Desire“, der sie überzeugen könnte, sich näher ranzuwagen, ist nicht drauf.

Für uns andere aber ist „Hunter“ tatsächlich eine Füllung: wieder aufscheinende Fetzen vertrauter Melodien offenbaren vieles über Anna Calvis Einflüsse, Leidenschaften, Lieben, auch die Geister, die sie in ihrem künstlerischen Wirken verfolgen, was wir bislang nur ahnten oder fühlten. In dem elegischen, schwülen, düsteren, intensiven Gewitter, in dem ihre Gitarre und die (weit in sphärische Höhen gewachsene) Stimme Blitz, Donner und thronende Wolkengebirge zugleich sind, finden wir die Klangphilosophie ihres Mentors Brian Eno, die impressionistische Weite von Morricone, Debussy, Messiaen, den ekstatischen Fluß von Jimi Hendrix, den verletzlich-verletzten, trotzig triumphalen Stolz von Siouxsie, PJ Harvey und Patti Smith, aber auch ein geisterbahnartig schockierendes Zitat von Suicide. Wir spüren ihre italienischen Wurzeln, den Twang von Duane Eddy, selbstverständlich Bowie, Morrissey, Cave und Scott Walker, aber auch ihre orchestralen, sinfonischen Ambitionen (2017 schrieb sie die Musik für eine Oper nach E.T.A. Hoffmanns „Sandmann“-Novelle). Und einiges mehr.

Es ist ein weites, tiefes, atmosphärisches, streckenweise enorm dichtes, dann wieder nebulös schwebendes drittes Album, das, wie gesagt, seinen ganzen Reiz und Zauber nur in amalgamierter Verbindung mit dem ersten (und möglicherweise dem zweiten) entfalten kann. Aber, liebe Novizen: Wagt es. Holt euch alle beide (oder alle drei), verzichtet auf alles (oder vieles) andere. Ihr werdet es nicht bereuen. Der Herbst wird lang und düster, und ihm werden viele weitere folgen, die ohne Anna Calvi nur halb so schrecklich und schön, traurig und trostvoll sein werden.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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