Frisch gepreßt #414: Manic Street Preachers „Resistance Is Futile“

Ein Vierteljahrhundert: Baby, die Zeit ist eine Hure! Damals war das so: hat jemand von unserem Label angerufen und gesagt, da kommt eine walisische Band auf Deutschlandtournee, die suchen grad noch eine Vorgruppe, weil der mächtige Sony-Konzern kein Geld lockermachen wollte, um irgendwen mitzuschicken von seinem hoffnungsvollen Nachwuchs (den es sowieso nicht gab: Es war die Zeit vor Britpop, high time for Grebo, man!). Es war auch die Zeit vor Mails und Internet, vor SMS und Files. Und vor unserem neuen Album, das wir also nicht per live „promoten“ hätten können (doch, das tat man damals so, nicht umgekehrt!).

Aber mal eine richtige Tour, mal nicht „morgen Gröbenzell, nächsten Samstag Berchtesgaden, dann mal schauen“, hey, das wär‘ schon was. Also schickten wir eine Kassette an eine Adresse in London, eine von tausenden, wie wir vermuteten, was soll‘s. Eine Woche später kam ein Fax: „The Manic Street Preachers are happy for you to join them.“ Das hieß: einen VW-Bus samt Fahrer/Techniker besorgen, Straßenkarten und Kalender studieren, kostenlose Übernachtungen an so exotischen Orten wie Essen, Hamburg, Köln, Hannover, Berlin, Halle (nein, da nicht, da fuhr man gleich wieder weg, d. h. dann gar nicht erst hin, wg. einstelligem Vorverkauf) organisieren.
Die Band immerhin kannte man ein bisserl, die hatte zwei Jahre zuvor mit ihrem ersten Album (tatsächlich meine erste gekaufte „Compact Disc“) Schlagzeilen und Titelseiten für eine ganze Jahrzehntkarriere abgeräumt und hingen jetzt mit dem zweiten ein bißchen überständig in der Luft herum. Erste Begegnung in Nürnberg: James, der coole Einzelgänger, der als Sex-Pistols-Fan in Hotels als „Steve Jones“ eincheckte; Nicky, der freundliche Zyniker, dessen Mund die schärfsten Beschimpfungen mit einem so charmanten Lächeln würzte, daß er nie ins Gefängnis mußte; Richey, ewiges Teenager-Model, der sich von Wodka ernährte und sich so gut mit unserem Gitarristen verstand, daß fast die Band zerbrochen wäre (nicht unsere), weil er nach dem dritten Joint die Treppe der KOMM-Garderobe (die heute noch so aussieht wie damals, morgen aber nicht mehr) hinunterpurzelte, und Sean, der nur etwas sagte, wenn ihm der Kragen platzte (was ich sieben Jahre später in Kuba ein einziges Mal erlebte), und sich seltsam ernährte.

So gondelten wir durch das deutsche Mistklima, drei Wochen lang, und plauderten: über Briten und den zweiten Weltkrieg, was unsere deutsche Generation so vom Holocaust wußte (jedenfalls weniger als Richey), wieso Liebeslieder tabu sind und in Songtiteln das Wort „Baby“ nicht vorkommen darf (ihrer hieß „Behave Yourself Baby“, nie veröffentlicht), tauschten T-Shirts und fuhren am Ende getrennter Wege (wir in ein Jugendzentrum in der Lerchenau, weil wir die Einladung zum Weitertouren in Japan aus, ähem, logistischen Gründen ablehnen mußten).

Ein gutes Jahr später trafen wir uns wieder; da waren die Manics mit ihrem Meisterwerk „The Holy Bible“ selbst nur noch Vorprogramm (für Suede) und Richey ein Schatten seiner selbst, der kurz darauf für immer verschwand. Und dann immer mal wieder, in einem Kölner Café, einem Münchner Hotel, einer Londoner Kneipe, endlich in Havanna, wo die Geschichte irgendwie zu Ende war. Es gab inzwischen SMS und Internet, aber die Wege verliefen nun doch sehr unterschiedlich. Ein Vierteljahrhundert, Baby; die Zeit ist eine Hure, und Liebeslieder sind längst nicht mehr tabu (nur noch blöd).

Was das alles mit dieser Platte zu tun hat? Ach, nichts. Es ist mal wieder ein Manics-Album, das sechste oder siebte hintereinander, das mich nicht mehr wirklich vom Hocker reißt und von dem sich in einer zukünftigen Best-of-Box nicht viel finden wird, mit Songtiteln, die so Manics-typisch sind, daß fast ein bißchen Bemühtheit durchscheint, wie auch in James‘ Gesang, der sich über die Jahrzehnte kaum oder nicht verändert hat. Aber es ist schön, daß sie irgendwie noch da sind, immer noch nichts als sie selbst sind und die vielleicht letzte klassische Rockband aus einer lange verwehten Zeit. Schön, mal wieder an die alten Geschichten und Gesichter zu denken, die allein dadurch immer lebendig bleiben, auch an Richey, der jetzt vielleicht irgendwo in Mittelamerika auf einer Veranda sitzt und doch noch Gitarre spielen zu lernen versucht.

Vielleicht hätten wir nach Japan mitfahren sollen. Ach nein, alles ist gut, wie es ist. Danke fürs Erinnern.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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