Belästigungen 13/2018: Herzlich willkommen im Jahr 1600!

„Du bist ein Zyniker!“ schimpft T, legt das Buch mit älteren Folgen dieser Kolumne zur Seite und atmet tief durch.

Das sei, wenn auch nicht so gemeint, ein Lob, sage ich und zitiere aus dem verwaschenen Gedächtnis den großen Ambrose: Ein Zyniker ist ein Mensch, der die Welt so sieht, wie sie ist, nicht so, wie sie sein sollte. Daher rührt der alte Brauch, allzu frechen Zynikern die Augen auszustechen, um ihren Sehfehler zu korrigieren.

„Nein“, sagt T, „ich meine das anders. Ich meine den anderen Zynismus! den schlimmen!“

Und schon muß ich mal wieder etwas weiter ausholen. Gut, sage ich, fangen wir mal bei Marx an. Ist es nicht erstaunlich, daß in den letzten 170 Jahren die Weltbevölkerung, die Wirtschaftsleistung und der Reichtum einer kleinen Klasse geradezu explodiert sind, während der Planet selbst, die Kontinente, das Sonnensystem und fast der gesamte Rest des Universums im wesentlichen gleich groß geblieben sind?

„Wirtschaftswachstum“, sagt T. „Ein alter Hut.“

Stimmt, sage ich. Marx hat uns erklärt, daß zwei Sachen für das gesamte Bruttosozialprodukt verantwortlich sind: Kapital und Arbeit. Durch seine Arbeit erzeugt der Arbeiter einen Mehrwert, den ihm der Kapitalist wegnimmt, um einerseits in weiteres Wachstum investieren und andererseits reich werden zu können. Das behauptet die „Wirtschaftswissenschaft“ – die bekanntlich keine Wissenschaft, sondern eine Religion ist, die jede Behauptung, These und Theorie erlaubt, solange sie gottgefällig ist – im Grunde bis heute.

„Ja und?“ sagt T.

Nun ist es aber so: Wenn man alles zusammenrechnet, was Kapital und Arbeit in den letzten 170 Jahren so zusammengerackert haben, bleibt ein Loch. Eine Lücke von 50 bis 60 Prozent. Die „Wirtschaftswissenschaft“ bezeichnet sie als Solow-Residuum, weil wohl ein Herr Solow als erster draufgekommen ist und „Residuum“ so chic wissenschaftlich klingt. Wo kommt das her?

Ja nun, da hat wohl ein Heiliger Geist mitgemischt, wie er das in einer anderen Religion auch gerne tut. Die „Wirtschaftswissenschaft“ nennt ihn „technischer Fortschritt“, aber so blöd wollen wir mal nicht sein; bleiben wir lieber beim Heiligen Geist, der also folglich periodisch Benzinmotoren, Smartphones, Laptops, Mondraketen und Atomkraftwerke vom Himmel schmeißt, ohne daß dafür Kapital und/oder Arbeit nötig wären.

„Das ist doch ein Schmarrn!“ sagt T.

Genau, und deshalb heißt es „Wirtschaftswissenschaft“. Zum Glück gibt es Physiker. Der Heilige Geist verschwindet nämlich stante pede und rückstandslos aus unserer Rechnung, wenn man bedenkt, daß die explodierende Menschheit in den letzten 170 Jahren etwa 300 Billionen (300.000.000.000.000) Liter einer vordem nur als Kuriosum bekannten Substanz verbrannt hat, die wir der Einfachheit halber Öl nennen wollen. Diese Substanz hat die Arbeit geleistet, die dafür gesorgt hat, daß sich die Weltbevölkerung in einer historischen Millisekunde versiebenfacht und der Reichtum der gewissen Klasse vermilliardenfacht hat.

„Gut“, sagt T, „irgendwie klar. Und jetzt?“

Jetzt? Jetzt geht das Öl zu Ende. Die derzeit seriösesten Schätzungen gehen davon aus, daß für die Reste, die man mittels Fracking und anderer Giftschmutzorgien aus dem Boden wringt, ungefähr im Jahr 2030 mehr Energie eingesetzt werden muß, als drinsteckt. Das ist wie wenn man am Chinesischen Turm zwei Liter Bier abgeben muß, um eine Maß zu kriegen, nur mit dem Unterschied, daß dann niemand mehr zwei Liter Bier hat.

„Aber es gibt doch erneuerbare Energien! Sonne! Wind!“ schwärmt T.

Klar, auch wenn sie selbstverständlich nicht „erneuerbar“ sind: in Deutschland zur Zeit etwa 28.000 Windenergieanlagen und 19 Millionen Quadratmeter Solarzellen. Die tragen 6 Prozent zum gesamten Energieverbrauch bei. Nötig wären also zusätzlich ungefähr 250.000 Windanlagen und 200 Millionen Quadratmeter Solarzellen. Schwierig. Zudem gibt es einen Nachteil: „Erneuerbare“ Energie ist defizitär. Das heißt: Man muß mehr Öl hineinstecken, als sie ersetzen kann. Das geht also auch nur bis ungefähr 2030, dann ist Schluß.

„Hm“, sagt T schon weniger euphorisch. „Atomkraft? als Zwischenlösung?“
Geht auch, sage ich. Allerdings müßten wir dann allein in Deutschland bis 2030 hundert neue Atomkraftwerke bauen. Acht bis neun pro Jahr, das möchte ich erst mal sehen. Abgesehen davon, daß es die Massen Öl, die dafür nötig sind, wahrscheinlich gar nicht mehr gibt, lohnt sich Atomkraft aber auch nur dann, wenn man auf sämtliche Nebenkosten pfeift, die durch den dabei entstehenden Dreck, Schrott und Müll und seine Jahrmillionen lange sichere Lagerung anfallen. Ganz abgesehen von den sich durch die schiere Zahl der Anlagen häufenden „größten anzunehmenden Unfällen“ und Super-GAUs, nach denen ja auch irgendwer aufräumen und die Sperrzonen bewachen muß.
„Na gut“, stöhnt T. „Wie lautet deine Lösung?“

Ich habe keine, sage ich. Nur eine Vermutung: Wer sich hinstellt und den Leuten erklärt, was Sache ist, den werden sie als Zyniker bezeichnen und sich daranmachen, seinen Sehfehler zu korrigieren. Also rackern wir einfach weiter wie gewohnt. So wie ein Mopedfahrer, der mit seiner Liebsten nach Berlin aufbricht und kurz hinter Dachau feststellt, daß sein Tank fast leer ist. Zum Umkehren ist es zu spät: Da müßten sie spätestens ab Schleißheim schieben, und der Typ müßte auch noch zugeben, daß er ein Depp ist. Also fährt er einfach weiter und sagt: Da wird schon noch eine Tankstelle kommen, bestimmt! Wenn dann doch keine kommt, wird ihm schon irgendwas einfallen.

„Das ist zynisch!“ protestiert T.

Eben. Und wenn ich jetzt sage, daß die derzeit stattfindenden Kriege um das letzte Öl im Nahen Osten bloß das Vorspiel zu dem allerletzten, extremen Krieg um die allerallerletzten Reste sind, der sich vielleicht nur noch deswegen verhindern läßt, weil dafür nicht mehr genug Öl da ist, und daß nach diesem Krieg eine Menschheit, die ungefähr so zahlreich ist wie im Jahr 1600, da weitermachen wird, wo sie im Jahr 1600 aufgehört hat, allerdings unter stark erschwerten Bedingungen, – was bin ich dann?

„Uff“, sagt T. „Gehen wir ein Bier trinken?“

Freilich. Das gab es 1600 auch schon.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN und liegt in fünf Bänden als Buch vor.

Kommentar verfassen

Entdecke mehr von Michael Sailers Blog

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen