Belästigungen 14/2018: Wie ich mal wieder begriffen habe, daß der Mensch auch bloß ein Viech ist

Selbstversuch: raus aus dem inneren Exil, hinein in die Welt und einen ganzen Tag lang „auf dem laufenden“ bleiben, hinsichtlich was so passiert an Wichtigem, Skandalösem und so weiter!

Das geht am besten mit Nachrichten. Zum Glück betreibt der Bayerische Rundfunk einen eigenen Nachrichtensender, der selbst mit modernen Digitalradios einigermaßen verständlich empfänglich ist. Einschalten, und los geht‘s: „Bayern möchte Flüchtlinge, die bereits in einem anderen EU-Land registriert sind, an der Grenze zurückweisen.“ So lautet die erste Meldung, und schon beginnt das Denken: Schlaue Idee! Da Deutschland zwar der größte Fluchtverursacher innerhalb der EU, aber zugleich nahtlos von „anderen EU-Ländern“ umgeben ist, kommt auf diese Weise kein einziger Flüchtling mehr auf deutschen Boden, und der durchschnittliche AfD-Nazi (der offenbar auch der deutsche Durchschnittsbürger ist, weil sich an seinen ideologischen Blähungen der gesamte Politikbetrieb des Landes abarbeitet) grunzt zufrieden.

Es gibt aber ja noch andere Themen, nicht wahr? Offenbar nicht. „B5 aktuell“ wiederholt „möchte Flüchtlinge, die bereits in einem anderen EU-Land registriert sind, an der Grenze zurückweisen“ in der folgenden Stunde circa zwölf-, gefühlt hundertmal (und das, by the way, noch tagelang), wahlweise mit „Bayern“, (öfter) „die CSU“ bzw. (immer öfter) „Seehofer“ als Anfang, dazwischen ein bißchen Sprachschaum über „Beratungen“ oder so.

Ein Blick in die Statistik zeigt: Die Zahl der Flüchtlinge, die noch in Deutschland ankommen, ist unerheblich. Also denkt man: Was soll‘s? Die wichtigen (oder wenigstens andere) Sachen werden schon gleich kommen. Kommen aber nicht. Unermüdlich mahlt die Mühle weiter: „möchte Flüchtlinge, die bereits in einem anderen EU-Land registriert sind, an der Grenze zurückweisen“. Ja, was möchten die denn zurückweisen, wenn da eh nichts kommt? Das erläutert zwischendurch ein Kommentator oder Experte. Zusammengefaßt: „Bla.“ Skandale? Probleme? Ereignisse? Vorkommnisse? Nichts dergleichen.

Doch, ein bisserl schon: Börsengeplapper; irgendwelche „Werte“ stehen gut oder nicht gut da, die Anlieger „zeigen sich“ wegen irgendwas „verunsichert“, „abwartend“ oder so. Eine Autobahnraststätte, heißt es, sei „wegen Sprengstoffverdacht“ geräumt worden. Ein Sprengstoff wurde dann aber nicht gefunden. Passiert ist also: nichts. Das gilt so ähnlich auch für den Atomkrieg und die Flüchtlinge, und so keimt in mir ein Verdacht: Im Radio wird offenbar nur gemeldet, was nicht passiert. Aber wozu? Klar – der Bürger muß wissen, was alles passieren könnte! Sprengstoff! Terror! Flüchtlinge! Apropos: „möchte Flüchtlinge, die bereits in einem anderen EU-Land registriert sind“, tönt es aus dem Hintergrund.

Weshalb sich der Bayerische Rundfunk solche Mühe gibt und dutzende Korrespondenten und Reporter bezahlt, um ein ganzes Tagesprogramm mit Fake News zu füllen, ist mir dennoch ein Rätsel. Aber wie soll man darüber nachdenken, wenn man schon wieder hören muß: „möchte Flüchtlinge, die bereits in einem anderen EU-Land registriert sind, an der Grenze zurückweisen“?

Derweil: werden Familien aus ihren Wohnungen geworfen, Städte bombardiert, Stadtteile in Luxusburgen verwandelt, denkmalgeschützte Häuser abgerissen, Landschaften vergiftet, asphaltiert und zubetoniert, Schaufenster von Immobilienhändlern eingeschlagen, Baumaschinen angezündet, Menschen entlassen, vertrieben, mißhandelt, beleidigt, verelendet, krank gemacht, verurteilt, ausgebeutet, gedemütigt, auf Autobahnen zerquetscht und zerfetzt (das immerhin führt gelegentlich zu der gleichgültigen Mitteilung „Zwischen X und Y acht Kilometer stockend“), werden Lebensmittel vernichtet, Pflanzen verpestet, Tiere mißhandelt, getötet, zerwurstet, artenweise ausgerottet, Grundnahrungsmittel patentiert, Wasserquellen privatisiert, und all das, dieser größte Skandal der Weltgeschichte, den wir behelfsmäßig „Kapitalismus“ nennen, weil wir kein passendes Wort dafür finden, spielt sich ununterbrochen direkt vor unseren Augen ab. Und der Rundfunk meldet: „möchte Flüchtlinge, die bereits in einem EU-Land registriert sind …“

Da bleibt am Ende nur: die Flucht. Und zwar weg von Menschen und ihren Nachrichtenmaschinen, bevor das Gehirn in den Lähmungszustand verfällt, den wir von den Gesichtern namenloser Autoinsassen und Karrierearbeiter kennen. Es dauert eine Weile, bis sich der geistige Giftnebel lüftet und endlich verzieht. Dann hört man zwar noch das infernalische Röhren des Mittleren Rings, der den ganzen Skandal symbolisch verkörpert, aber nur noch aus der Ferne und wenigstens momentweise übertönt vom lieblichen Gezwitscher der Vögel, die zum Beispiel melden: „Tschilp! Tirili tröt brätirrri rilirirrrötilari!“

Was das heißt, können wir mangels Sprachkenntnis nur ahnen. Ist auch egal, weil vor allem idyllisch und schön. Allerdings fällt nach einiger Zeit etwas Merkwürdiges auf: „Tschilp! Tirili tröt brätirrri rilirirrrötilari!“ ertönt ohne große Variation immer wieder, im Fünfminutentakt; auch die Antworten der anderen gleichen sich: „Krah! Krah! Piep! Piep! Krah! Piep!“ Das wird irgendwann doch verdächtig: Kann es sein, daß sich der Vogel (als solcher) unbemerkt in einen Menschen verwandelt hat und „Tschilp! Tirili tröt brätirrri rilirirrrötilari!“ im wesentlichen nichts anderes heißt als „möchte Flüchtlinge, die bereits in einem anderen EU-Land registriert wurden, an der Grenze zurückweisen“?

Oder ist der seltsame Vorgang nur mal wieder ein Beweis für die alte These, daß auch der Mensch nur ein Teil des Tierreichs ist und deswegen – so wie der Hund bellt, die Katze jault, die Kuh muht, das Pferd wiehert und der Hahn kräht – von Zeit zu Zeit seinen Signalruf ausstoßen muß, der eben zufällig so ähnlich klingt wie „möchte Flüchtlinge, die bereits in einem anderen EU-Land registriert wurden, an der Grenze zurückweisen“?

Wir wissen es nicht. Und weil es in der ganzen Welt offensichtlich keinerlei Quelle für irgendwelche Informationen gibt, die über Signalrufe hinausgehen, werden wir es wohl auch nie erfahren.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN und liegt in fünf Bänden als Buch vor.

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