Belästigungen 07/2018: Der Mensch braucht eine Heimat (weil man ihn sonst regieren kann)!

In Deutschland, und ganz besonders in Bayern, wird so viel über „Heimat“ gefaselt, daß einem ganz heimelig werden könnte, wenn da nicht dieser seltsame Unterton wäre. Der hat einen Grund. Wenn in Deutschland von „Heimat“ gefaselt wird, ist meistens dies gemeint: eine kriegerisch aggressive Industriehölle von viertelkontinentalem Ausmaß, hier und da gesprenkelt mit Restgrün, durchzogen von röhrenden Autobahnen. Und die, die in diesem Schlamassel am lautesten von „Heimat“ faseln, sind (abgesehen von diversen Politfaslern, die ihnen das Heimatzeug vorfaseln) meistens die armen Würstchen, die ihr Leben lang in dieser Hölle herumgeschickt werden, um sich ausbeuten zu lassen, damit ein Profit entsteht, der Jahrzehnte nach ihrem Dahinscheiden milliardenweise vererbt wird.

Wer sich als williges Opfer solcher Zustände in einer „Heimat“ wähnt, dem ist nicht zu helfen. Vor allem dann nicht, wenn er das karge Scherflein Geld, das ihm die Milliardenanhäufer zugestehen, dafür ausgibt, in seiner wenigen „freien“ Zeit in vollkommen andere Weltgegenden zu fliegen, die logistisch (Nahrung, Klamotten, Fernsehprogramm) weitgehend identisch ausgestattet sind, abgesehen von ein paar Temperaturgraden, und dort in der „Heimat“ wildfremder Menschen, denen es nicht viel anders geht als ihm, herumzustolzieren, als wäre er der Weltkönig, beziehungsweise genau das gleiche zu tun wie in der „heimischen“ Freizeit (auf einem Display herumwischen, kreuzworträtseln, mampfen, saufen und blöd daherreden), nur in diesem Fall mit dem Grundrecht auf Beschwerde, wenn was nicht genehm gerät.

Sagen wir‘s, wie‘s ist: Heimat ist ein Schmarrn; daß es dafür in Deutschland mittlerweile nicht nur ein, sondern gleich drei Ministerien gibt, sollte Beweis genug sein. Daß dort ehrenwerte, aber kaum für geistig-philosophische Höhenflüge bekannte Figuren wie Herr Seehofer, ein (immerhin!) Landwirt und eine nordrheinwestfälische BWL-Absolventin drinsitzen, sagt den Rest. Und daß man das Wort in sämtlichen Sprachen außer der deutschen vergeblich sucht … ja mei, wen wundert‘s?

Es sei eingeräumt: Wenn der Amerikaner sein „Sweet Home Alabama“ plärrt, könnte man darin eine gewisse Nähe zum deutschen „Heimat“-Getue vermuten. Da sollte man aber bedenken, daß Alabama eines der beliebtesten Ziele deutscher (!) Immigranten (!, doch, liebe Nazis, so was gibt es) war, „sweet“ erst wurde, nachdem die dort Beheimateten vertrieben waren, und sich eines der schlimmsten Antieinwanderungsgesetze überhaupt rühmt: Wer sich dort eine halbe Stunde in die Sonne setzt, läuft Gefahr, als illegaler Angehöriger der Tex-Mex-„Rasse“ entlarvt und entsprechend behandelt zu werden.

Andererseits ist das Konzept „Heimat“ an sich vielleicht gar nicht so dumm. Schließlich kennt man das von anderen Tieren: Amsel, Eichkatz, Hund und Katze, Karpfen, Ente, Fuchs und Has, selbst Spinne und Ameise haben ihren Lebensradius, den der schlaue Biologe „Revier“ nennt. Für ortstreuere Zeitgenossen wie Baum, Pilz und Blattlaus gilt das sowieso: Schleppt man sie aus diesem Revier hinaus und setzt sie irgendwo anders hin, werden sie meist recht schnell recht elend, wirr und unglücklich, zumindest vorübergehend.

Das hat simple Gründe, die man mit dem Konzept „Heimat“ in Verbindung bringen könnte, allerdings ziemlich andere als jene, die auf Zusammenrottungen von CSU, AfD, NPD und inzwischen auch allen möglichen anderen Wahlvereinen herumgeplärrt werden. Um fröhlich und zufrieden im eigenen Revier wesen und nachts friedlich schlafen zu können, muß ein beliebiges Tierchen in diesem Revier buchstäblich jeden Stein und Ast, jede Ecke und Nische, jedes Loch und sämtliche Winzigkeiten kennen, mit Klima, Wetter, jahreszeitlichen Spezialitäten und Mitbewohnern vertraut sein, sich im Tages-, Monats-, Jahresverlauf so gründlich auskennen, daß es höchstens mal zwischendurch einen Gedanken wie „Oh! Es wird warm! Der Frühling kommt!“ daran verschwenden muß. Andere Gedanken – etwa „Huch! Wo kommt denn diese dröhnende Autobahn plötzlich her?“ – sorgen automatisch für so gründliche Verwirrung und Entfremdung, daß es mit dem zufriedenen Dasein schlagartig vorbei ist.

Welchen räumlichen Umfang so eine „Heimat“ hat, hängt von einigen Faktoren ab: Lebensspanne, durchschnittliche Kreuch- und Fleuchgeschwindigkeit sowie das Gedächtnis spielen zum Beispiel eine entscheidende Rolle. Vor allem die Zeit ist ein unüberwindlicher Limitator: Einer Eintagsfliege wird es kaum gelingen, ihr Revier auf mehr als ein paar Kubikmeter auszudehnen, und selbst in diesem bescheidenen Raum kann ganz plötzlich ein Phänomen daherkommen, von dem sie noch nie gehört hat und das ihr Leben schlagartig beendet, eine Schwalbe oder ein Frosch zum Beispiel. Gerät ein Löwe ein paar Kilometer über seine letzte Duftmarke und die letzte vertraute Astgabel oder Steinformation hinaus, irrt er hilflos durch die Gegend. Einem Eichkätzchen, das sowieso unter angeborener Gedächtnislosigkeit leidet und tausend Nüsse im Revier herumpfeffern muß, um mit viel Glück drei davon wiederzufinden, fällt es unter Umständen leichter, sich in einem neu erbauten Betonindustrieareal zurechtzufinden als einem Igel, aber wenn am gewohnten Kletterbaum plötzlich drei Hauptäste fehlen oder statt dessen ein Windrad dort steht, geht es ihm so ähnlich wie der Amsel, der man das Nest verräumt oder die man in eine Gegend versetzt, wo überall unsichtbare Glasscheiben in der Luft herumhängen.

Die Voraussetzung, um eine „Heimat“ wirklich so nennen zu können, ist also: sich darin gründlich auszukennen – am besten so gründlich, daß man „regiert“ werden nicht mehr kann (weil die, die gerne regieren täten, sich im Gestrüpp der nun anführungszeichenlosen Heimat eben nicht auskennen).

Darin könnte ein subversives Potential schlummern, und wenn man dies bedenkt, wundert es einen nicht mehr, daß die Großsprecher und Möchtegernführer sich solche Mühe geben, die Industriehölle noch höllischer zu machen und die Menschen wahllos darin herumzuschieben. Und daß sie den Begriff „Heimat“ so gern für sich reklamieren, umdefinieren und dafür ganze Ministerien gründen: Die haben Angst oder zumindest Sorge, es könnte ihnen mit den notorischen deutschen Heimatlern so gehen, wie es den alten Römern ging.

Die nämlich zogen sich, nachdem sie im Jahre 9 von Arminius mehr oder weniger zufällig besiegt worden waren, aus selbigem Deutschland zurück. Aber nicht weil sie dachten, man könne diese Germanen auf dem Schlachtfeld nicht besiegen. Das hätte bei einem zweiten Versuch locker hingehauen. Besiegbar waren diese Typen zweifellos.

Aber regierbar: niemals. Guter Ansatz, finde ich.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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