Belästigungen 3/2018: My Life in the Gestrüpp of Kausalität (und der Werthaftigkeit von Streichfett)

Normalerweise lese ich keine Zeitungen, der geistigen Hygiene wegen: Alles, was über die Augen in den Kopf hineingeht, hinterläßt dort Spuren. Wer schon mal versucht hat, die olfaktorischen Überbleibsel einer versehentlich verbrannten Kürbissuppe restlos aus der Wohnung zu entfernen, weiß: Da bleibt immer was, und wenn es nur ein eigentümliches Rüchlein am Rücken eines lange nicht zur Hand genommenen Büchleins aus der obersten Regaletage ist.

So geht es mir mit Zeitungen: Wenn ich ein ganzes Exemplar durchblättere, bündelt sich Bullshit in meinem Kopf, der sich mit stundenlangen Spaziergängen nicht mehr gänzlich hinauslüften läßt. Noch nach Tagen ploppt plötzlich irgend so ein Schmarrnsatz im Gedächtnis auf, und schon muß ich mich wieder ärgern, statt die Schönheit der Welt zu würdigen. Nach zwanzig Jahren Abonnement ähnelt das Gehirn wahrscheinlich einer jahrhundertealten Odelgrube samt Misthaufen oben drauf. Ein gemütliches Wohnzimmer kann man da nicht einrichten.

Aber manchmal fahre ich zum Beispiel mit der Eisenbahn, und da läßt gerne mal ein Vorpassagier so ein Blatt liegen, auf das zwangsläufig mein Blick fällt – wie man die Ohren nicht verschließen kann, um dummes Gequatsche auszublenden, ist es dem Menschen, wenn er erst mal lesen gelernt hat, leider nur noch unter größten Mühen möglich, Schrift, die man ihm vorsetzt, nicht zu lesen.

Heute stand da (empfindsame Naturen sollten das folgende Zitat nicht lesen, andererseits: Probiert’s mal, hi hi!): „Beliebt“ sei „der negative Blick: ‚Die Wirtschaft‘ sei profitversessen, beute Arbeitnehmer aus, zerstöre die Umwelt und mache die Menschen krank. ‚Die Wirtschaft‘ ist ‚der Kapitalismus‘, eines so schlimm wie das andere. Und natürlich muß ‚der Staat‘ die Wirtschaft zähmen.“

Oho! dachte ich, da stimmt ja praktisch jedes Wort – abgesehen von der Frage, ob es eines und anderes geben kann, wenn das eine das andere ist. Und dem „sei“ und den putzigen Anführungszeichen, die (zwinker!) andeuten, daß der Verfasser in Wirklichkeit die exakt gegenteilige „Meinung“ propagieren möchte. Tut er auch: Nämlich sei „die Wirtschaft“ gar nicht böse Konzerne et al., sondern „ein Prozeß“ oder vielmehr „wir alle“: „Wenn eine ganze Gesellschaft nur noch auf Eigennutz und Selbstverwirklichung aus ist, dann werden auch Unternehmen so agieren. Wenn eine Gesellschaft sich nicht um die Umwelt und faire Produktionsbedingungen schert, wenn Verbraucher Fünf-Euro-Klamotten kaufen und Benzinschlucker fahren, dann werden Unternehmen Entsprechendes anbieten.“

Da ging mir schlagartig ein Licht auf. Seit Jahren ärgere ich mich, weil kein Münchner Bäcker mehr Brot anbietet, das mit Kümmel und Koriander gewürzt ist. Dabei bin ich selber schuld! Ich muß ja nur so stur und ausdauernd Kümmel-Koriander-Brot kaufen, bis die Bäcker ein Einsehen haben und es backen!

Ich bin nämlich „Gesellschaft“ und habe eine Macht über die armen Konzerne, die ich unbarmherzig einsetzen werde. Ich werde bei überfüllten S-Bahn-Kurzzügen so lange in den zusätzlichen Waggon einsteigen, bis der MVV einen zusätzlichen Waggon dranhängt! Ich werde so viele gute Bücher lesen, daß die Verlage gar nicht mehr anders können, als gute Bücher zu drucken! Ich werde so lange gute Musik hören, bis Leute Bands gründen, die gute Musik spielen! Ich werde mich im Januar nackt an den Isarstrand legen, bis das Thermometer dreißig Grad zeigt!

Oder nein, das Klima ist schließlich kein Konzern und kann nichts für und gegen die Gesetze der Physik. Dafür werde ich im Supermarkt so stur gesunde, giftfreie, wohlschmeckende Lebensmittel kaufen, bis der Supermarkt gesunde, giftfreie, wohlschmeckende Lebensmittel in sein Sortiment aufnimmt. Ich schaue mir so lange gute deutsche Fernsehserien an, bis jemand eine gute deutsche Fernsehserie produziert. Und zur Not lese ich so lange vernünftige Zeitungsartikel, bis sich ein Journalist erbarmt und etwas in eine Zeitung hineinschreibt, was nicht einem Batzen Pudding zwischen zwei Ohren entsprungen ist, sondern zumindest eine Ahnung von Kausalität verrät.
Reiten wir nicht zu sehr darauf herum. Das Zitat entstammt einem „Wirtschaft“-Teil, und in Wirtschaftsredaktionen sitzt bekanntermaßen mehr Pudding mit Ohren herum als sich Doktor Oetker in seinen wildesten Träumen vorstellen könnte. Der schwachköpfige Artikel ist ja auch nur wieder mal Teil der Strategie, Schuld und Verantwortung denen aufzuhalsen, die weder etwas dafür noch dagegen können. Damit alles so weitergeht, wie es geht. So wie damals, als uns eine Lehrerin weismachen wollte, schuld an den Millionen Plastikbechern, die täglich in die Welt gemüllt werden und sie irgendwann unbewohnbar machen, seien nicht die Hersteller von Plastikbechern, sondern wir, weil wir sie nicht einsammeln und nach Trennung vom Aludeckel zu Containern schleppen, damit sie einem geregelten Recycling zugeführt werden. Nur so gehe das! Ein Verbot von Plastikbechern hingegen sei streng verboten, weil … nun ja, Markt und so.

Und schon ärgert man sich wieder, weil die Dummheit hinter solchen „Gedanken“ gar so abgrundtief ist und man so gar überhaupt nichts dagegen tun kann, nicht mal als „ganze Gesellschaft“. Zum Glück fällt aus so einem Wirtschaftsteil bisweilen auch mal ein Sätzlein heraus, das nicht nach verbrannter geistiger Kürbissuppe möpselt, sondern in seiner strunznaiven Gläubigkeit so goldig ist, daß man es am liebsten streicheln und ihm ein gütiges „Tutsi Tutsi!“ auf den Weg in die kichernde Welt mitgeben möchte. Etwa diese Sentenz, die dem Zweck dienen soll, gestiegene Butterpreise schönzureden: „Noch immer können es Liebhaber des Streichfetts gar nicht glauben, daß Butter neuerdings wieder zu den guten Nahrungsmitteln zählt. Gern zahlen sie mehr, spiegelt die Verdoppelung des Preises doch die neue Werthaftigkeit (sic!) wider.“

Da fällt mir wirklich gar nichts mehr ein, außer einem langen, langen, lauten Lachen, das möglicherweise vierzehn Tage dauern und mit einem durch und durch gereinigten Gehirn verklingen wird.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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