Belästigungen 20/2017: Von Büchern, Drogen und der Glückseligkeit der „Finanzmärkte“

Jede Epoche der Menschengeschichte, so mag es dem Freizeithistoriker scheinen, hat ihre eigenen Drogen und Kulturtechniken. Zum Beispiel war es vor nicht allzu langer Zeit (nicht nur) in unseren Breiten durchaus üblich, tiefgängige und fundierte Literatur zu gesellschaftlichen Problemen, Fehlentwicklungen und Skandalen zu lesen, zu diskutieren und daraus sogenannte Handlungskonzepte abzuleiten. Das heißt: sich zu überlegen, was man am besten dagegen tut, daß die Welt in Einzelheiten und insgesamt nicht so eingerichtet ist und läuft, wie sie das sollte, damit es möglichst vielen Leuten gut geht.

Heute spielen solche Fragen und Antworten keine Rolle mehr, weil das Wohlbefinden gewöhnlicher Menschen nicht mehr von Bedeutung ist. Wem es heute gutgehen soll und muß und wessen Lust und Laune deshalb das grundlegende und einzige Maß aller Dinge ist, hat man uns jahrzehntelang so gründlich eingehämmert, daß wir es quasi als Instinkt verinnerlicht haben: Es sind die „Finanzmärkte“. Wenn der Sommer ein schöner war, dann ärgert und grämt es uns nicht mehr, daß wir und der überwiegende Teil der Bevölkerung nichts davon gehabt haben, weil wir ihn vor allem damit verbringen mußten, in Betonkisten herumzuwerkeln, um Futter für die „Finanzmärkte“ heranzuschaffen. Sondern wir fragen: Was hat der Sommer den „Finanzmärkten“ gebracht? Sind sie einigermaßen zufrieden? Dito bei Kriegen, Grippewellen, Terroranschlägen, Naturkatastrophen und jeder einzelnen Wahlfarce, mit der ein marktradikaler Pappkamerad wegen Abnutzung durch einen anderen ersetzt wird oder auch nicht.

Welch ein Aufatmen geht dann durchs Land, wenn Radio, Fernsehen und Zeitungen melden, die „Finanzmärkte“ zeigten sich „belebt“, „erholt“ und „freundlich“, sie reagierten positiv auf sich abzeichnende und bereits abgelaufene „Entwicklungen“, und wenn dann noch dafür gesorgt ist, daß die regierende Großkoalition aus marktradikalen Eliteparteien nicht nur wie gewohnt mit der milde lächelnden Pseudomutti (oder notfalls ihrem Ersatzfroschgockel, der allerdings alles dafür tut, das zu verhindern) an der Spitze weiterregieren kann und eliteseits darf, dann sind alle zufrieden. Alle heißt: die „Finanzmärkte“. Und wir auch, weil es die „Finanzmärkte“ sind.

Deswegen stirbt die Kulturtechnik des Lesens und Durchdenkens fundierter, durchdachter Literatur aus und wird ersetzt durch das epileptisch-zufällige Herumwischen in Knallmeldungen über rasierte Hühner, zerstückelte Ehefrauen und andere saure Gurken, die das Resthirn irgendwie beschäftigt halten und die vormals wesentlichen gesellschaftlichen Vorgänge komplett ausblenden. Die Bücher indes gibt es zwar noch, aber sie liegen in Pappkartons mit der Aufschrift „zu verschenken“ vor den Eingängen von Häusern herum, in denen nicht mehr diskutiert, sondern nur noch konsumiert und ein kurzes Erholungs-Power-Napchen absolviert wird, ehe das Werkeln zum Wohle der „Finanzmärkte“ weitergeht.

Kontemplativen Flaneuren wie mir, die sich diesen Prozeß mit milde wütender Wehmut von außen anschauen, bleibt die verantwortungsvolle Aufgabe überlassen, die Marx-Gesamt- und Einzelausgaben, die bunten edition-suhrkamp-Bändchen und aufbrecherischen Pamphlete aus verwehten, hoffnungsfrohen Zeiten einzusammeln, bevor sie sich mit Regenwasser und Hundepisse vollsaugen, sie einzulagern wie kleine Gläschen mit Sinnmarmelade, von denen man weiß, daß sie wahrscheinlich nie wieder jemand hervorziehen und öffnen wird, weil die Evolution unaufhaltsam voranschreitet und das rudimentäre Hirn des westeuropäischen Menschen in nicht allzu ferner Zukunft nicht mehr in der Lage sein wird, überhaupt zu begreifen, daß die alles bestimmende Diktatur der „Finanzmärkte“ nicht naturgegeben und ganz und gar nicht „alternativlos“, sondern eine absichtsvoll herbeigeführte soziale Krebswucherung ist, der man mit Therapien zu Leibe rücken sollte, bevor der Exitus unabwendbar ist.

Ebenso ist es mit den Drogen. Das „Dritte Reich“ etwa war ohne Aufputschmittel ebensowenig denkbar wie das nachfolgende „Wirtschaftswunder“, dessen Opfer hinterher mit Valium beziehungsweise Heroin ruhiggestellt werden mußten. Und den bunten Wahn der Flower-Power-Pop-Op-Frischwärts-Reklame konnte man nur ertragen, wenn man sich mit harzigen Kräutern eine wohlige Gleichgültigkeit andampfte, während man dann, als die „Finanzmärkte“ ihre Terrorherrschaft einleiteten und fröhliche Konsumhippies zu aggressiven Börsenathleten mutierten, ohne Kokain schlagartig vergaß, wieso man mit aller Kraft ein derart blödes Leben anstrebte.

Heute, wo der jahrtausendelang trostvolle Hanf genetisch dermaßen optimiert ist, daß eine homöopathische Dosis genügt, um sich ein ein dreitägiges Hirnkoma zu ballern, in dem nichts mehr geschieht außer Schokolade und daß die Zeit vergeht (langsam), erkennen wir sozusagen „ernüchtert“, daß selbst das Kiffen zum Leistungswettbewerb degeneriert ist. Die logische Konsequenz trägt den Namen Ritalin und wird dem für die „Finanzmärkte“ nötigen Nachwuchs generationendeckend eingepumpt, auf daß er sich ausbeutungstauglich zurichten lasse, ohne abgelenkt zu werden, aufzubegehren oder outzudroppen.

Ritalin funktioniert ungefähr so wie eine Gehirnamputation, bei der eine einzige Windung zurückbleibt, die genau eine einzige Funktion hat: funktionieren. Für den modernen Sklaven der „Finanzmärkte“ heißt das: relativ unsinnige und seinem eigenen Menschsein (oder -werden) zuwiderlaufende Funktionsregeln und Verfahrensvorschriften in sein monokompatibles Verhaltenssteuerungszentrum hineinpressen, Prüfungen bestehen, die beweisen, daß er funktionieren kann, und dann eben für den Rest seiner irdischen Existenz funktionieren: wachstumsrelevante Tätigkeiten verrichten, die nicht ihm, sondern den „Finanzmärkten“ zugutekommen, bis eines Tages alles Nachrüsten und Weiter„bilden“ nichts mehr hilft und er krummbuckelig und ausgelaugt in die Altersarmut rangiert wird, für die er bitteschön in Eigenverantwortung Vorsorge zu tragen hat, weil es sich die „Finanzmärkte“ nicht leisten können und wollen, ihr Menschenmaterial nach dessen Ausbeutung durchzufüttern.

Das erträgt von Natur aus niemand, ohne sich zum Beispiel von dem Gedanken ablenken zu lassen, daß die Welt und das Universum irgendwann mal nicht den „Finanzmärkten“ gehörten, sondern allen Lebe- und sonstigen Wesen, die darin leben und wesen, und daß das im Grunde immer noch so ist oder sein sollte, daß es eigentlich ganz einfach wäre, dafür zu sorgen, daß es wieder so ist, und daß außerdem die Sonne scheint und der TSV 1860 spielt und der Biergarten zum letzten gemütlichen Herumlumpen des Jahres (oder des Lebens, wer weiß?) einlädt und dies und das und jenes und und und.
Mancher erinnert sich dunkel, in einer der vor den Hauseingängen herumliegenden Schwarten gelesen oder irgendwie davon gehört zu haben, Religion sei Opium für das Volk. Heute sind Religion und „Opium“ quasi identisch und eins: Unter den Bedingungen der real existierenden Marktdiktatur kann auf die Dauer nur überleben, wer sich mit Ritalin dopt, und der Ritalinjunkie braucht die Marktdiktatur, weil er in einer freien Gesellschaft durchdrehen und wie ein Rekordauto auf gerader Strecke in die Leere (und irgendwann gegen eine Wand) rasen würde. So: rast er in eine längst abgesteckte, verkaufte und zugunsten der „Finanzmärkte“ durchgeplante „Zukunft“.

Wir anderen, die da nicht mittun wollen/können/dürfen, machen es uns in den Büchergebirgen gemütlich, drehen uns ein homöopathisches Rohr und warten geduldig auf den Tag, an dem die anderen feststellen, daß das alles überhaupt nichts bringt und keine Freude macht, und fragen, ob es nicht vielleicht auch ganz anders geht. Und daß dieser Tag mit jeder einzelnen Ritalinisierung eines Junghirns in weitere Ferne rückt und vielleicht überhaupt nie mehr kommt, ist schade, aber, dem alten Kifferwitz gemäß, auch irgendwie egal.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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