Es soll auf diesem Planeten Menschen geben, die dieses Album nicht besitzen, obwohl es nun schon zum (gefühlt und in diversesten Ausgaben) 45. Mal erscheint, 45 Jahre nach dem ersten Erscheinen, mit dem damals eine Manie-Lawine losbrach, wie sie die Welt seit den ganz frühen Tagen der Beatles nicht mehr erlebt hatte.
Es soll Leute geben, die Slade überhaupt nicht kennen. Oder höchstens von einem Weihnachtsparty-Ungetüm namens „My Oh My“, das … nein, von dem wir heute mal einfach nicht sprechen wollen. Nachhilfe: Slade (Noddy Holder, Jimmy Lea, Dave Hill, Don Powell – als einzige bekannte Hitband außer den Beatles nie umbesetzt) hatten 1971, 1972, 1973 und 1974 so viele Top-3-Singles wie keine Band der Menschheitsgeschichte (außer den Beatles), und zwar nur in Großbritannien – ihr Versuch, 1975/76 die USA zu knacken, darf als kläglichstes Scheitern der Pophistorie gelten.
Aber was sind schon Hits, auch wenn es Dutzende sind? Vor allem waren Slade die lauteste, wildeste, bunteste, verrückteste Band womöglich aller Zeiten, Vorbilder für die Sex Pistols und Oasis, die ultimative, nie mehr zu toppende Party-Rock-’n‘-Roll-Bande, das Dampfrohr auf dem Kessel der Glamrock-Generation, das schillernde Nebelhorn im Duster der 70er, das jeden Club, Saal, jede noch so große Halle binnen Sekunden in ein tobendes Inferno verwandelte, vollkommen ohne (wie das später üblich wurde) ihr Publikum zu dominieren, zu unterwerfen oder mit Showbrimborium zu blenden.
Dabei waren Slade, gängigen Einschätzungen zuwider, alles andere als blöd, auch nicht primitiv, nicht mal simpel. Sie hatten ihr Handwerk gelernt, schon als Prä-Teenager seit den frühen 60ern, hatten sich als Tanzband und Skinhead-Truppe versucht, auf ihrem ersten Album u. a. Steppenwolf, Frank Zappa, The Move und die Beatles gecovert, aber festgestellt, daß sie selber viel bessere Songs schreiben konnten – Songs von einer strukturellen Dichte und lärmsonischen Textur, wie sie nie wieder jemand imitieren konnte. Dabei half ihr Freund/Manager Chas Chandler, einst Animals-Bassist und Jimi-Hendrix-Entdecker, der sie für die (musikalisch/spielerisch) beste Musikgruppe aller Zeiten hielt (vielleicht mit Recht) und ihnen riet, alle Verstärker (also: drei) nicht nebeneinander laufen zu lassen, sondern zusammenzustöpseln und so eine organische Wand von Klang zu schaffen, die ohrenbetäubend und zugleich unfaßbar lebendig war.
Mehr als das i-Tüpfelchen: Sie konnten auch leise, ganz leise sogar, möglicherweise besser als ultralaut, obwohl das ihr Markenzeichen war. „Slade Alive“ beginnt mit einer zwingend groovenden, dabei fast quälend behutsamen Version von Ten Years Afters „Hear Me Calling“, die nur punktuell (beinahe) explodiert. Und zwar enthält es mit „Get Down And Get With It“ den ersten (von damals drei, die anderen beiden fehlen) Hit in Düsenjäger-Brachialität (das Unisono-Klatschen und -Stampfen klappte deswegen so gut, weil die Platte zwar live – ohne irgendwelche Overdubs –, aber vor einer Handvoll Kumpels im Studio eingespielt wurde), aber auch das hinreißende „Darling Be Home Soon“ (Original: The Lovin‘ Spoonful), das zeitweise so knisternd still wird, daß Noddy Holders versehentlicher Rülpser (es gab, wie üblich, viel Bier) wie ein erlösender Blitz wirkt.
Der Höhepunkt aber ist und bleibt das abschließende „Born To Be Wild“ in einer unwiderstehlich dröhnenden, alles umreißenden Version, die die Urheber Steppenwolf für alle Zeiten erbleichen ließ, vom einleitenden Monsterriff bis zum infernalischen Finale, bei dem man sich stellenweise tatsächlich als Zeuge des Danteschen Weltuntergangs wähnt, allerdings frenetisch fröhlich, außer sich vor Begeisterung. Und vor allem: ist der Zuhörer bis heute eben nicht Zeuge, sondern mittendrin im kochenden Auge des Zyklons.
Es gibt, auch nach Jahrzehnten, kaum ein (in jeder Hinsicht) besseres Rock-Livealbum als dieses, mit dem für Slade alles anfing und irgendwie schon den Gipfel erreicht hatte. Kaum? Kein einziges, nirgendwo und nie. Es wird vielleicht nie eines geben, und wenn doch: Sagt uns bescheid, aber bitte laut, damit wir euch hören.
Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.