Frisch gepreßt #399: Sparks „Hippopotamus“

Darf ich einleitend erwähnen, daß ich momentan (Donnerstag, kurz vor Mitternacht) in einem mindestens zehn Jahre alten Morrissey-T-Shirt (die „Formel-eins“-Kollektion) eineinhalb Meter neben meinem Lieblingszapfhahn sitze (Hintergrundmusik: „Centerfold“ von der J. Geils Band)? Doch, das spielt eine Rolle (das in Klammern nicht).

Weil: es gibt da eine Geschichte. Da ist Morrissey (ohne Zweifel der stil- und geschmackssicherste, belesenste und behörteste, nerdmäßig gebildetste und möglicherweise eloquenteste Populärmusiker des 20. und 21. Jahrhunderts; mag jemand streiten?) aus Manchester, England und überhaupt dem europäischen Kontinent weggezogen ins tiefste Kalifornien, hat sich dort ein Haus gekauft und gewartet.

Gewartet? fragt der Nicht-Nerd. Worauf denn?

Sagen wir: auf seine Nachbarn. Nämlich hatte er das Häuschen nur gekauft und war nach Kalifornien nur gezogen, weil dorten in unmittelbarer (sagen wir: kalifornisch unmittelbarer, also in einer halben Stunde mit der Corvette erreichbarer) Nähe Ron und Russell Mael wohn(t)en. Sparks.

Sparks? Sagt heute kaum noch jemandem was. Sagte damals (ein tieferes „damals“) auch kaum jemandem was. Nur Eingeweihten. Die hörten das dritte Sparks-Album „Kimono My House“ (hi hi) zu Glam- und Punkrock- und anderen Zeiten am Stück hintereinander, Abende lang, vielleicht kurz unterbrochen vom vierten („Propaganda“), ekstatisch und hysterisch kichernd, begeistert, vom Nachhall im Zwischenhirn noch vormittags an der Supermarktkasse schwuchtelig zuckend und swingend, noch mal: be-gei-stert. Ein Jahrhundertalbum. Morrissey war einer dieser seltsamen Menschen. Ich auch.

Jetzt aber: war Morrissey zwar in Kalifornien, hatte aber keinen Führerschein, folglich auch keine Corvette, dazumal (und sowieso) kein Mobiltelephon, ließ also komplizierteste Anbahnungen anlaufen mit dem einen lebenserfüllenden Ziel: Ron und Russell oder Ron oder Russell ins Haus zu kriegen und ein Schälchen Tee mit ihm/ihnen zu leeren, devot zu konversieren und solcherart einen Ziegel in den Turm des biographischen Fanplans zu mauern.

Nun aber: ist Morrissey abseits der Bühne notorisch krankhaft schüchtern. Als tatsächlich eines Tages ein (oder zwei) Mael(s) an seine Tür klopfte(n), ließ er ihn/sie einlassen, versteckte sich aber, als eine Art Vase maskiert, in einer Ecke des Wohnzimmers und hörte schwärmend zu, was der zufällig anwesende Journalist mit dem/n Mael(s) so plauderte. Selbst bekam er kein Wort heraus.

Da gibt es nichts zu lachen. Schüchternheit mag nicht das nächstliegende Asset eines Popstars sein, wurzelt aber in einer höchst bewundernswerten Bescheidenheit, die zu verdanken weiß. „Kimono My House“ ist und bleibt, sprechen wir es ehrlich aus, eine der grandiosesten Pop-Platten aller Zeiten (und zum Beweis ist der Evergreen „This Town Ain’t Big Enough For Both Of Us“ der mit Abstand schwächste Song darauf), „Propaganda“ kommt kurz dahinter, dann – vielleicht – vier oder fünf Morrissey-Alben.

Ja, und jetzt? Fragen wir uns, was danach passiert ist. Weil es ja noch zig bis Zillionen (oder zwei- bis dreiundzwanzig) Sparks-Alben gibt, die größtenteils wenig bis minus null taugen und nur deswegen im Plattenschrank (oder auf der Festplatte) verstauben, weil halt „Sparks“ draufsteht und zum Beispiel auch kein guter Christ ein Kruzifix aus der Kirche hinauswürfe, nur weil es greislig ist.

Die Geschichte ist hier (fast) zu Ende. Es gibt schon wieder ein neues Sparks-Album, und selbstverständlich ist es nicht so niederschmetternd, himmelsprengend wie „Kimono My House“ und „Propaganda“. Aber es ist wagemutig, elegant, abenteuerlich, sexy, hinreißend und ein Stück jenseits von allem, was Nachgewachsene in den letzten dreißig Jahren an Popmusik produziert haben – das meiste davon klingt im Vergleich wie ein Blatt von der Klopapierrolle: schon irgendwie angenehm, vielleicht sogar duftig und erfreulich, aber … Es gibt übrigens außer Morrissey, Eminem und The Darkness keine (moderne) Musik, die Sparks nicht müde, lau, langweilig und scheiße finden.

Morrissey hat Sparks (bitte IMMER: ohne „The“!) damals zum Meltdown-Festival nach London eingeladen (oder vermutlich einladen lassen), wo sie „Kimono My House“ am Stück gespielt haben, badend in der Begeisterung von Menschen, die zu jung waren, um zu ahnen, daß es etwas Derartiges gab und geben konnte. Und mir hat mal ein Wirt der legendären Musikkneipe „Domicile“ in der Leopoldstraße erklärt, wieso er einen relativ neuen Flügel auf der Bühne stehen hatte: 1974 oder 1975 habe ein wilder Haufen namens Sparks da gespielt und das alte, ziemlich historische Tasteninstrument im Überschwang des Moments so gründlich zerhackt, zerspreißelt und zersplittert, daß die (o große Popzeiten!) fünfstellige Gage einbehalten und lebenslanges Lokalverbot erteilt wurde. Einer habe einen Hitlerbart gesportet, der andere alle fünf Bedienungen gleichzeitig auf dem Billardtisch flachgelegt, bei offener Tür.

Eine der wenigen Reliquien, die ich besitze, ist eine halbe Klaviertaste, die ich damals beim (verschämten) Abbauen meines Gitarrenverstärkers fand. Ich huldige ihr gelegentlich. Und ihr, die ihr euch fragt, was das hier alles soll: kauft bitte dieses und mindestens zwei weitere Sparks-Alben (siehe oben). Weil es wenige Sachen gibt, die diese fade Welt so wenig verdient hat wie Sparks. Und kaum etwas, was ihr und ihrer Popmusik dringender fehlen könnte.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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