Frisch gepreßt #397: Milo „Who Told You To Think??!!?!?!?!“

Ich mag Musikwitze. Zum Beispiel: Was passiert, wenn man Platten rückwärts abspielt?

Country: Das Feuer geht aus, die Frau kommt zurück, der Hund wird wieder lebendig. Heavy Metal: (bitte beliebige Satanspointe dazudenken). Bei Elektro: passiert nichts. Hip-Hop-Platten: handeln plötzlich nicht mehr nur von sich selbst.

Der versteckte Vorwurf geht selbstverständlich ins Leere, weil Platten mit populärer Musik im Grunde immer von sich selbst handeln. Daß die autobiographischen Elemente im Hip-Hop vermeintlich so prominent auf der Klippenspitze der Vordergründigkeit stehen, hat damit zu tun, daß für die Tempeldiener der Chorus-, Middle-eight-, Bridge- und Solokunst meist wenig zu holen ist im steten Fluß von Beat und Flow. Es hat auch damit zu tun, daß es (wie von Musikschaffenden aller gängigen Genres) Rapper viel zu viele gibt und hier wie überall das Banale, Billige und plakativ Primitive auf dem kommerziellen Aufmerksamkeitstreppchen triumphiert und den Rest ausblendet.

Die Folge ist hier wie da und schon immer, daß sich ein Underground weniger absichtlich bildet als vielmehr von selbst entsteht als virtuelles Sammelbecken all jener, für die Unabhängigkeit, Tiefe, Neugier, Mut, Bewußtheit die Triebfeder(n) ihres künstlerischen Daseins sind und nicht Verwertbarkeit, Griffigkeit und unmittelbare Stoßkraft. „Wieso babbelt dein Lieblingsrapper schon wieder über seine Marke? Hier kommt der letzte Aufruf an die echten MCs: Wir brauchen eure Stimme“, sagt Milo dazu. Wenn er mal plakativ murrig werden mag, was normalerweise nicht seine Art ist.

Seine Art ist vielmehr filigrane Poesie, verschachtelte Reime, die wirken, als säße er mit einer guten Tasse, ähem, Kräutertee im Fläzsessel und plaudere einfach so vor sich hin, über das Leben und die Welt, wie sie aussehen, wenn sie das raffinierende Mahlwerk seines komplizierten Denkorgans passiert haben, samt ungefilterten Anspielungen, die einer Rätselrunde lustige Abende versprechen. Er selbst spielt dabei nur diese Rolle: sehen – deuten – sagen.

Der Nabel ist ein wirksames Ventil, der Eigen-Lob-und-Klage-Anteil beschränkt sich auf weitgehend nüchterne Einsichten: „The point is: My vocabulary pays my rent.“

Dieser Einstellung entspricht das musikalische Trägermaterial: simple Samples, entspannte Beats mit viel Leere, ein paar unaufgeregte Glitches, Cuts und Fast-nicht-Effekte – immer wieder glaubt man ein Plakat zu sehen: „F***t euch mit euren Trends!“ Beim Hörenlesen der Texte wird daraus ein anheimelndes Kaminfeuer, das hin und wieder gemütlich knistert und knackt.

Häng deinen Kessel drüber, Bruder!

Und derweil erzählt Bruder Milo, im Halbschlaf kontemplierend, seine Geschichten. Mal unendlich träge/müde, mal stakkatogereimt. Mal glasklar, manchmal mit beißendem Witz gepanzert. Mal simpel bis zur Entwaffnung, mal von einer Anspielung zur nächsten hüpfend, von Aristoteles zu Dungeons & Dragons zu Nabokov. Mal mit einer diskreten Wutaufwallung, mal allversöhnlich weise. Aber immer: zwingend, überzeugend.

Die Gäste halten das Niveau teilweise glänzend, etwa Lorde Fredd33 als Star der Flowparty „Yet Another“; die Komplizen verstehen sich blind. Unfreiwillig (aber, wenn’s ginge, sicher willig) geladen ist der nach Paris ausgewanderte und vor ziemlich genau dreißig Jahren verstorbene James Baldwin, der Volksschriftsteller der afroamerikanischen Nation: Sein klassisches Zitat „Ich möchte meinen, daß die Dichter am Ende die einzigen sind, die die Wahrheit über uns kennen“ eröffnet ein Album, das man mindestens fünfmal hintereinander hören kann, ohne bei einer Umrundung nichts neues zu finden und zu erfahren. „Shocking moment as the pupil thought: Me and my niggers is a school of thought.“ (Na gut, der Reim ist ein Ausrutscher.) Eine (in den Worten des Komplizen Elucid) „15-Track-Landkarte der Lebensmythen (…) , eingeweiht in die schwarze radikale Tradition“.

Und was passiert, wenn man die Platte rückwärts abspielt? Nicht viel, weil in dem oben genannten Sinne schon die Vorwärtsabspielung rückwärts läuft. Man versteht dann bloß nicht mehr so viel. Oder mindestens was ganz anderes, wenn der, ähem, Kräutertee stark genug ist. „Don’t stop running if you don’t see me ahead.“

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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