Belästigungen 18/2017: Wie man die Welt rettet, indem man sitzenbleibt

Zu den unterschätzten Tätigkeiten insbesondere des Spätsommers zählt das Sitzenbleiben. Damit meine ich nicht das, was Schülern im früheren Sommer früher gelegentlich unterlief, wenn sie die Verweigerung der Aufnahme angeblich nützlicher Wissensfakten und Rechenregeln allzu ausgiebig verweigerten, um statt dessen vernünftigerweise lieber zum Baden zu fahren oder auf Spielplatzbänken herumzuknutschen. Diese Form des Sitzenbleibens kommt kaum noch vor, seit Regierung und Wirtschaft beschlossen haben, Deutschland müsse dringend zukunftsfähig werden und zu diesem Zweck brauche möglichst jeder ein Abitur, das so schnell und früh wie irgend möglich abgelegt werden müsse, damit die sozusagen nürnbergisch betrichterten Bildungskinder umgehend in die Fabriken, Büros und Arbeitsagenturen hineinströmen und das Wachstum ankurbeln.Eindeutig spätsommerlicher ist es, einfach so sitzenzubleiben, sich an Restsonne, Restwärme und Restbadewasser zu erfreuen, weil man weiß: Nur noch ein paar Tage, dann werden Isar und Seen noch nett, aber nicht mehr verführend glitzern, dann wird die Sonne am frühen Nachmittag hinter den Biergartenbäumen versinken und ihr fröhliches Lächeln abgelöst vom frostigen Nebelhauch der Herbstnacht. Dann wird es wieder sieben bis acht Monate dauern, bis ein neuer Sommer daherblüht, den man schlotternd ersehnt, um ihn dann doch wieder nicht zu erleben, weil ja so viel zu tun ist an „Arbeit! Arbeit! Arbeit!“ (für die Jüngeren: So lautete einmal eine Wahlparole der CSU oder SPD, ich weiß es nicht mehr genau).

So vergehen ganze Menschenleben mit der Sehnsucht nach etwas, was immer wieder kommt, was man aber nicht greifen, auf ein Konto einzahlen und irgendwann mit einem Haufen Zinseszinsen sich wieder auszahlen lassen kann. Und wovon deshalb kaum jemand etwas hat, weil immer noch „kurz“ oder „schnell“ oder überhaupt und jedenfalls vorher anderes zu erledigen ist.
Möglicherweise steckt dahinter ein archaischer Atavismus. Im Urhabitat des Menschen konnte das Sitzenbleiben nämlich durchaus unerfreuliche Folgen haben, wenn zum Beispiel ein Löwenrudel oder auch nur eine unleidliche Großfamilie von Nashörnern anrückte. Den größten Teil seiner Gesamtgeschichte war der Mensch deshalb so gut wie ständig auf der Flucht, kam so gut wie nie zur Ruhe und sehnte nicht den nächsten Sommer, sondern eine moderne Zeit herbei, in der er es sich endlich gemütlich machen und sitzenbleiben könnte.

Tja, und dann kam die moderne Zeit daher. Und der Mensch, der das Sitzenbleiben einfach nicht gelernt hatte, begann sofort, tausend neue Wege zu ersinnen, um es zu vermeiden. Er baute Karren, Autos, Bahnen, Flugzeuge, Schiffe und Mondraketen, um möglichst schnell woanders hinzukommen. Er befahl sich Autonomie, Eigeninitiative und Selbstverwirklichung, warf die Familie und den gerade noch angeblich geliebten Lebenspartner aus dem Fenster, um neue Kontinente, Meerestiefen und Planeten zu erobern, die aufgrund eines perfiden Naturgesetzes innerhalb kürzester Zeit identisch aussahen (hier ein Einkaufsparadies, dort eine Müllhalde), weshalb er immer gleich wieder weg und woanders hinwollte. Er erfand das Wachstum (von dem bis heute niemand weiß, wozu es gut sein soll), er erfand den Sport (dito), den Tourismus, Mobilität und Flexibilität, Sachzwänge und immer neue Notwendigkeiten, mit denen – das schärfen ihm seine Führer unablässig ein – ein Sitzenbleiben absolut nicht zu vereinbaren ist.

Und am Ende, als alles nicht mehr half, erfand er das „Pendeln“. Das geht so: Der frisch absolvierte Bildungsmensch bekommt einen „Studienplatz“ zugeteilt (wo er zum Beispiel lernt, Autos zusammenzuschrauben, Tabellen zu erstellen, Reklame für Sportveranstaltungen aufzuziehen oder die Feinheiten des Gebäudereinigungswesens profitorientiert zu optimieren). Der Studienplatz ist in – sagen wir mal – Visselhövede. Einen Schlaf- und Fernsehplatz kriegt der Bildungsmensch auch zugeteilt, der ist aber in Grevenbroich. Nach Abschluß der Ausbildung erhält er einen „Arbeitsplatz“ in Dinslaken, muß aber nun nach Sprockhövel und ein halbes Jahr später nach Deppenhausen umziehen, dann zieht sein Ausbeuter nach Mannheim und er nach Weißnitwo, und jedenfalls verbringt er ein Fünftel seines Lebens auf Straßen, in Intercity-Zügen und (falls er das Glück oder Pech hat, irgendwie systemrelevant zu sein) im Dunstmief von Flugzeugen. In die er endlich auch noch steigt, um in zwei Wochen Winterurlaub den wieder mal verpaßten Sommer in einem identischen „Ressort“ nachzuholen.

Die derart erzeugte Dauerraserei treibt bisweilen absurde Auswüchse. Zum Beispiel beschloß der Mensch eines Tages, seine Fabriken an die Stadtränder zu verlegen, um ihren Lärm und Gestank loszuwerden. Nun mußte er da aber hin, zum Arbeiten. Also baute er Autobahnen, womit sich allerdings dummerweise Lärm und Gestank viervierfachten. Als die Fabriken dann endlich in Entwicklungsländer verlegt werden konnten, wo sich niemand über Lärm und Gestank beschwert, zog der Mensch selber an den Stadtrand und entfaltete dort ungeheure, krebsartig wuchernde Siedlungsmaschinen, die zwar kein ästhetisch oder sonstwie empfindsames Wesen bewohnen kann, ohne selbst krebsartige Wucherungen oder mindestens eine Atomdepression zu entwickeln. Aber das muß er halt, schließlich sind die Autobahnen nun mal da, und schließlich werden seine schönen alten Wohnungen in der Stadt nun von Firmen (den Schaltzentralen der in die Dritte Welt verlegten Fabriken) bewohnt und sind inzwischen sowieso so teuer, daß dort nur noch Firmen wohnen (die sich so was leisten müssen, weil es repräsentativ ist, und können, indem sie nach Lust und Laune an Löhnen und Gehältern sparen).

Wie das weitergeht, ist absehbar. Eines Tages werden die Wohnmaschinen am Stadtrand so weit gewuchert sein, daß sie sich gegenseitig überlappen. Dann werden sie abgerissen, um noch mehr Autobahnen Platz zu machen, die nirgendwo mehr hinführen, weil bei einer täglichen Pendelzeit von acht bis zwölf Stunden keiner mehr eine Wohnung braucht und man zwar auch in der Firma schlafen könnte, das aber lieber im „selbstfahrenden Auto“ tut, aus urzeitlicher Gewohnheit.

Und irgendwann gibt es dann auch keine Arbeit mehr zu tun. Dann endet die Menschheitsgeschichte mit der Reinform des totalen Pendelns: Alle fahren vierundzwanzig Stunden am Tag irgendwo hin, und wenn sie dort sind, kehren sie wieder um. Und umgekehrt.

Falls je ein Urmensch dieses bizarre Inferno in einem prophetischen Alptraum erblickt hat, dann war es vielleicht genau dieser schockierte Urmensch, der wider Natur, Gewohnheit und Atavismen etwas erfand, was heute eventuell nicht nur den Sommer, sondern die ganze Welt als solche retten könnte: das Sitzenbleiben.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN und ist in fünf Bänden als Buch erhältlich.

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