Belästigungen 03/2015: Wo ein Volk herkommt und was es ist und sein kann (und wo es hingehört)

Da, wo ich aufgewachsen bin (nennen wir es mal generalisierend „Obergiesing“) gab es früher ein paar Lokale, an denen wir gelegentlich vorbeischlenderten (oder sagen wir: strawanzten) und einen Blick hineinwarfen und zusammenfassend feststellten, da sitze ja ein sauberes Volk drinnen. Manchmal kam dieses Volk auch heraus, das war dann nicht mehr so idyllisch anzuschauen. Da volkte es gewaltig, sozusagen, und ab und zu kam auch die Polizei. Oder der Sanker. Ein sauberes Volk halt.

War die Bezeichnung abwertend gemeint? Wer weiß; ein Stückerl Ehrfurcht (oder sagen wir’s moderner: „shock and awe“) wird schon dabeigewesen sein. Jedenfalls war es das, was wir unter der Bezeichnung „Volk“ verstanden: ein finsterer Haufen, zusammengeschmiedet durch das gemeinsame Trinken und Stinken, Glotzen und Motzen, Grölen und Nölen, wehrhaft noch im Delirium oder gerade dann, bisweilen von volkstümlicher (!) Freundlichkeit, der man jedoch besser mit einem gewissen Mißtrauen begegnete, wie man ja auch nicht jedem Wolf, der einem im bayerisch-böhmischen Grenzwald über den Weg läuft, umstandslos die Pfote und das Käsbrot reicht und ihm einen guten Tag entbietet. Wie man Teil dieses Volks werden konnte, blieb uns vollkommen rätselhaft. Es gab dieses Volk wohl schon immer, und es blieb immer unter sich.

An diese soziale Gemengelage mußte ich in den letzten Wochen oft denken, wo so viel vom „Volk“ die Rede war und ist. Da wollten die einen das Volk sein, andere es verstehen oder vertreten oder mit ihm reden, und insgesamt aber wollten ihm alle das beste, weil es nun mal das Volk ist und es nur ein einziges solches gibt.

Nein, nicht nur eines: Ein griechisches Volk zum Beispiel gab es auf einmal auch, das laut Ansicht der in der Krise geschmiedeten Einheitsfront deutscher Medien wahnsinnig geworden ist und nicht nur „Linkspopulisten“, sondern auch noch „Rechtspopulisten“ an die Regierung gewählt und damit ganz Europa, besonders aber das deutsche Volk an den Rand des Abgrunds gedrängt hat. Ja hm, was fällt dem denn ein, diesem Volk, diesem griechischen!

Interessant ist dabei erst einmal der „Populismus“, der sich begrifflich ja von nichts anderem herleitet als vom „populus“, also dem „Volk“, gelt, oder nicht?

Oder vielleicht nicht. Ich bewege mich da etymologisch auf dünnem Eis, ich weiß, aber mir ist aufgefallen, daß es ein „Volk“ im deutschen Sinne tatsächlich nur bei den Deutschen gibt. Das Wort kommt als „folk“ allerdings auch im Englischen vor, da bezeichnet es (fast immer leicht abwertend) eine regional verankerte Gemeinschaft von Stämmen oder Sippen, deren Mitglieder untereinander verwandt sind. Es käme aber kein Brite auf den Gedanken, sich als Teil eines britischen „Folk“ zu bezeichnen. Man sagt da „people“, wie der Italiener „popolo“ und der Franzose „peuple“ sagt – da hört man das „populus“ ebenso heraus wie den deutschen „Pöbel“ – die Bevölkerung eben, die „Leute“, im Zweifelsfall: die „einfachen“.

Und da liegt ein vielleicht entscheidender Unterschied: Die „Blutsverwandtschaft“ gilt den Welschen nichts, bei denen gehört zusammen, was aufgrund historischer Zufälle und Verwerfungen im selben Land herumsitzt und gemeinsame Interessen hat (die „res publica“, die eben nicht „res volkiga“ heißt). Dem Deutschen ist solch Vielvölkerei suspekt; er ist ein Volk und läßt auf Dauer nur hinein ins Land, was „deutschen Blutes“ ist und das auch nachweisen kann – da spielen selbst etwaige Sprachkenntnisse keine große Rolle mehr. Die verlangt man nur „Zuwanderern“ aus blutsfremden Versippungen ab, während der im zwölften Glied irgendwie Blutsdeutsche notfalls auch nach tausend Jahren Diaspora aus Kasachstan oder Kannitverstan anreisen kann und sofort Deutscher ist, weil er das nun mal schon immer war.

Deshalb hat der Deutsche, insbesondere der reinblütig-adelige Elitedeutsche, der gerne in Medienkanzeln herumsitzt und ein „Volksempfinden“ zusammenwolkt, ein solches Problem mit „Populisten“: Die wenden sich traditionsgemäß an „die Leute“ (die kleinen! auf der Straße! igitt!); der brave Deutsche hingegen hängt sich an die Blutsvolksgemeinschaft; er denkt und fühlt nicht populistisch, sondern völkisch. Und fragen Sie ihn bloß nicht, wo ihn das in den letzten hundert Jahren hingebracht hat!

Ich möchte da jetzt keinen „deutschen Sonderweg“ hineininterpretieren, wie ihn die Historiker in den letzten Jahrzehnten gerne mal an die Wand gemalt und dann so lange disputiert haben, bis das letzte Barthaar gezaust und der angebliche Sachverhalt dermaßen zerspleißt und zerspreißelt war, daß niemand mehr wußte, um was es ursprünglich ging. Aber vielleicht steckt da einfach ein solcher deutscher Sonderweg drin. Ich kann mich nämlich auch noch gut erinnern, was für einen Zoff ein ansonsten wenig bedeutender Künstler vor einigen Jahren bekam, als er in eine Auftragsarbeit für den Reichstag den Schriftzug „Der Bevölkerung“ einbringen ließ – nicht wegen dem vermeintlich falschen Artikel, sondern wegen dem Gegensatz zur Reichstagsaufschrift „Dem deutschen Volke“, wozu einst (1935) bereits der alte Brecht feststellte: „Wer in unserer Zeit statt Volk Bevölkerung und statt Boden Landbesitz sagt, unterstützt schon viele Lügen nicht.“

Da saßen sie mal wieder in den Schützengräben, die deutschen Volkslinge, und meinten, der Mann wolle (so die FAZ) dem deutschen Volk „die Selbstachtung und das Recht auf nationale Identität“ verweigern, gar „ebendieses Volk negieren“ – so richtig zaubertrickmäßig: einmal „Bevölkerung“ hingeschrieben, schon – puff! – ist es weg, das Volk!

Was vielleicht nicht die schlechteste Idee gewesen wäre, so insgesamt. Hat aber halt leider nicht geklappt, drum volkt es uns weiter am Hals herum und wird das wohl noch lange tun, wenn wir es nicht endlich doch mal so richtig effektiv negieren. Oder insgesamt in einen Giesinger Stehausschank hineinsperren und erst wieder herauslassen, wenn Polizei und Sanker da sind.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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