Frisch gepreßt #334: Jessica Pratt „On Your Own Love Again“

Ich weiß nicht, ob es Menschen gibt, die sich noch an Margo Guryan erinnern. Es dürften nicht allzu viele sein, die aber seufzen um so wohliger, wenn sie zufällig mal wieder „Sunday Morning“ lauschen und der beliebige Tag sich in einen Idealsonntag verwandelt – was besonders gut geht, wenn die Welt unter einem Plumeau aus weißem Samt schlummert. Dann gerät die Zeit sanft ins Schweben und verharrt, und das müßige Gehirn erschlafft und verschiebt all die wichtigen Pflichten – Steuererklärung machen, Beziehungsstrategien entwerfen, sich eine Meinung zu Griechenland bilden, das neue Bob-Dylan-Album hören usw. – auf einen fernen Sanktnimmerleinstag.

Ach ja, die Zeit und die Erinnerung: Seit bald fünfzig Jahren geistert Margo Guryans Stimme durch die Anderwelt der Tagträumer, jung bis zur Kindlichkeit, entspannt-naiv und immer ein wenig unsicher in der Intonation, weil sie nicht „performt“, sondern direkt aus der Seele (oder schlicht: aus der unmittelbaren, unaufmerksamen Aufmerksamkeit) singt. Und dabei hat sie sich nie verändert, wie sich „performende“ Stimmen im Ohr verändern, was auch an Margos Weigerung, sich in den „Betrieb“ zu begeben, gelegen haben mag – sie wollte weder Manager, Agenten, Anwälte, Booker noch sonstige Bestimmer über und neben sich dulden, ging nicht auf Tour und ließ ihrer ersten Platte keine zweite folgen. Sie löste sich sozusagen auf.

Vielleicht noch schöner als sich an Margo Guryan zu erinnern ist es, unwillkürlich an sie erinnert zu werden, wenn unvermittelt eine ähnlich verträumte, träumerische, den Zeitläuften enthobene Stimme durch die Räume schwebt, von der man spontan weiß, daß kaum jemand sie bemerken wird, die wenigen, die es tun, sich aber nicht gegen das frohe Lächeln wehren werden können, wenn sie in vielen Jahren wieder erklingt und der Tag sich in ein Plumeau aus weißem Samt kuschelt.

Jessica Pratt hat wahrscheinlich auch noch nie von Margo Guryan gehört (sie ist 1987 geboren), aber sie ist so ein Fall: aufgewachsen in einem von den Eltern absichtslos mit Tim Buckley, The Gun Club und anderen Abseitigkeiten beschallten Nest, nahm sie mit vierzehn eines Tages die von ihrem Bruder weggelegte Stratocaster-Gitarre in die Hand und vertrieb sich ein paar Wochen lang die Zeit damit, das gesamte zweite T.Rex-Album (für Nerds: „Electric Warrior“) spielen zu lernen und frühe Marianne-Faithfull-Platten mitzusingen. Und dann schrieb sie eigene Songs, ohne damit irgendein Ziel zu verfolgen, ohne sie „performen“ zu wollen – Miniaturen verträumter Tage, ungezwungene Meditationen über Dinge, mit denen man sich nur beschäftigt, wenn man sich mit nichts beschäftigen muß: Wasserfarben, blaue Geranien, solche Sachen.

„Fachleute“ nennen so eine Musik gerne „Freak Folk“, weil sie nirgendwo hineinpaßt, nichts erreichen will, weder Ziel noch Funktion hat, außer die Zeit sanft zum Schweben und Verharren zu bringen. Die Aufnahmen auf Jessicas erstem Album lagen sechs Jahre lang herum, ehe jemand auf sie aufmerksam wurde (weil ihr Freund ein paar davon auf Facebook postete). Ihr war das wahrscheinlich ziemlich egal, gesungen, gespielt und aufgenommen waren sie ja schon, mit einem alten Tonbandgerät übrigens, was fast ein wenig nach Klischee riecht, aber so ist’s nun mal.

Das alte Tonbandgerät darf auch auf ihrem zweiten Album diskret rauschen und brümmeln, es darf sich auch mal (noch so ein Fast-Klischee) eine Gleichlaufschwankung erlauben. Das lenkt nicht ab von ihrem kristallinen, wassergrünen Gitarrenspiel, von ihrer federleichten, die Trauer der Welt als Hauch in sich tragenden Stimme, den seltsamen, verschrobenen Harmoniefolgen, durch die ihr Gesang weht wie ein verlorener Luftballon durch Wolken, Nebelschwaden und den strahlend blauen Himmel.

Die Geschichten, die sie erzählt, bleiben meist ungreifbar, selbst wenn und obwohl es um so Handfestes wie Verlassen und Verlassenwerden geht: „Deep inside my lonely room/ I cry the tears of never knowing you“ – besser kann man das nicht ausdrücken, denkt man, ehe man bemerkt, daß man gar nicht sagen kann, was „das“ ist. Aber da ist man schon verzaubert, verklärt und aller Schwere entledigt, geläutert und seltsam glücklich, wenn am Ende selbst die Stille zu singen scheint und die Welt, die sich unbemerkt aufgelöst hat, aus dem Tagtraum neu ersteht.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Kommentar verfassen

Entdecke mehr von Michael Sailers Blog

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen