(Aus dem tiefen Archiv:) Frisch gepreßt #1: U2 „All That You Can’t Leave Behind“ (November 2000)

Im Herbst befällt manche Menschen die Katzenkrankheit. Man müßte so viel tun und machen, und manchmal denkt man sogar daran, aber vom Denken allein schreibt sich ja nicht einmal eine Kolumne, also sitzt man da, sieht aus dem Fenster oder in den Fernseher hinein und ignoriert die verzweifelten Zurufe aus dieser anderen Welt, wo immer jemand wissen will, wann und warum nicht.

Das heißt nicht, daß man nicht beschäftigt wäre. Man ist sogar sehr beschäftigt, zum Beispiel damit, auf den Akkord zu warten, diesen einen, der besonders weh tut. Den spielen U2.

Es gibt eine bestimmte Theorie über U2 und Beziehungen: Wenn ein neues U2-Album erscheint, wird es Zeit, sich mal wieder ein bißchen Mühe zu geben, weil man sonst den Soundtrack fürs Selbstmitleid gleich mitgeliefert kriegt, und dann ist nicht nur die Liebste perdü, sondern auch der Musikgenuß. Ich kenne ungefähr neunzehn Leute, die schwören, sie könnten das Album “Achtung Baby” nie mehr in ihrem Leben hören, nicht einen einzigen Ton davon und schon gar nicht “One”, weil sie das damals tausendmal hintereinander gehört haben, in Startbahnlautstärke, wegen dieser einen Stelle vor allem, wo es dann heißt: “You asked me to enter” (hier kommt der Akkord!) “and then you made me crawl, now how can you be holding on to what you got, when all you got is hurt?”, und das haben sie mitgegrölt wie hysterische Seehunde und durch das Tränenmeer hindurch gebrüllt: “Ja! Genau!” und zwar so laut, daß sie da draußen die Qual da drinnen auch ganz bestimmt merkt. Und irgendwann war ihnen das Theater furchtbar peinlich, und “Achtung Baby” stand für immer im Regal, “Nicht berühren!” Zum Glück waren die zwei oder drei Folge-U2-Alben so scheiße, daß man sich höchstens mit wehmütigem Lächeln erzählte, wie schlimm es früher alles war und leider nicht mehr ist.

Aber jetzt Vorsicht: Es war noch nicht einmal richtig November vor zwei Wochen, da rief schon der melancholische Herbert* an, ein Spezialist für Musik und Katzenkrankheit: “Kann ich eine Zeitlang bei dir wohnen?” Und, natürlich: “Schon die neue U2 gehört?” Er empfahl mir “Walk On” zum Einstieg, und während das Telephon munter weiterklingelte (“Kannst du nicht mal mit Georg* reden?” – “Weißt du, ich gehe nach Argentinien”– “Du warst doch immer so gut als Vermittler” – “Scheiße, Monika* ist ausgezogen” – “Du, ich muß mal mit jemandem reden” – immer mit einem hinzugefügten Hinweis auf die Platte, die übrigens “All That You Can’t Leave Behind” heißt, was ja schon ein recht deutlicher Wink mit dem Zaunpfahl ist) – während dies alles geschah, hörte ich die Platte und hatte eine Art umgekehrtes Deja-Vu: Ich wußte sofort, daß sie in spätestens einem Jahr direkt neben der neuen Placebo in jenem Regal stehen wird, wo die Sachen stehen, die man sich nie mehr anhören kann, ohne diesen furchtbar nostalgischen Sehnsuchtsschmerz zu leiden. Die man sich also überhaupt nie mehr anhören kann.

Und die Textzeile hab’ ich auch gefunden: “I wasn’t jumping, for me it was a fall / It’s a long way down to nothing at all.” Oder lieber die? “Home … hard to say what it is if you’ve never had one.” Und dann kommt der Akkord, dieser eine, ich erwähnte ihn schon.

Warum quält man sich so? Vielleicht weil es so schön ist. Und jetzt muß ich mal telephonieren und allen erzählen, wie phantastisch die neue U2 ist. Und noch so ein paar andere Sachen.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN. Diese Folge war die erste der Reihe und erschien im November 2000.

Kommentar verfassen

Entdecke mehr von Michael Sailers Blog

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen