Belästigungen #427: So laßt uns denn ein Distelbäumchen pflanzen (wenn’s nicht anders geht)!

Lügen sind widerlich. Das merkt man, wenn man sich mal ein paar Monate der Berichterstattung über die sogenannte „Politik“ entzieht und dann wieder kurz hineinschaut: ein Blick in so eine Phrasenvisage kann einem einen halben Frühling versalzen, und wenn man sich Gedanken macht über das, was da an vorgefertigtem Sprechmüll herausverklappt wird, wundert es einen nicht mehr, daß neunzig Prozent aller auf diesem Planeten verschickten Mailnachrichten den Erwerb von Viagra betreffen.

Es kann auch passieren, daß man an Menschen gerät, die den ganzen Tag und mit jedem einzelnen Satz lügen. Das ist enervierend: ihnen dabei zuzuschauen und zu -hören, wie sie sich mit jedem weiteren Satz in neue Lügen verstricken, zurückweichen, rechtfertigen, Ausflüchte und Erklärungen zusammenschrauben, bis sie von einem Gestrüpp von Bullshit von derartiger moralischer Häßlichkeit umgeben sind, daß der einzige Fluchtweg in ein Landschaftsgemälde von Caspar David Friedrich hineinführt. Oder notfalls in tagelanges Schweigen.

Große Lügen können einem das Hirn zerfoltern und den Magen zerfressen. Da hilft es wenig, zu wissen, daß sie dem Lügner selbst das Hirn längst zerfoltert, die Haut gegilbt und das Leben zur Laufbahn einer Flipperkugel gemacht haben, die wähnt, sie entscheide selbst, welchen Bumper sie als nächstes küßt. Kleine Lügen immerhin kann man mit einem Zähneknirschen löschen, ohne in Gefahr zu geraten, sich auf das Spiel einzulassen und aus Notwehr oder gerechtfertigter Bosheit zurückzulügen.

Zum (abseitigen) Beispiel begegnen mir in meinem Nebenberuf als gastronomischer Praktikant immer mal wieder Figuren, die sich zum Zweck des Austauschs von Lügen in eine Schankwirtschaft begeben, ein Spezigetränk konsumieren und einem zur Bezahlung des fälligen Verzehrentgelts (3,10 Euro) einen Fünferschein auf den Tresen legen und erwartungsvoll glotzen. Fragt man sie, ob sie zufällig ein Zehnerl dabeihaben, entgegnen sie ohne mit der Wimper zu zucken: Nein, das hätten sie nicht, und dabei hört man ihren Geldbeutel rasseln wie eine Kettenhemdfabrik beim Erdbeben. Also legt man ihnen einen Zwickel hin, knirscht remedierend mit den Zähnen und sagt, der Rest sei Trinkgeld. Was übrigens nicht gelogen ist, schließlich wurde das Zehnerl zweifellos vertrunken.

Die ansonsten der Verbreitung nützlicher Informationen gänzlich unverdächtige „Apotheken-Umschau“, ein Relikt aus der Steinzeit der Bundesrepublik Deutschland, als man morgens nach dem Frühsport den Gartenzwerg polierte, hat in dieser Hinsicht unlängst eine bahnbrechende Erkenntnis verkündet: Nämlich habe die (zum Beleg der unverbrüchlichen Wahrheit noch der abstrusesten These gerne herbeizitierte) Harvard-Universität in einer „Studie“ herausgefunden, daß der Normalmensch morgens grundehrlich erwacht, sich aufrichtig aufrichtet und mit dem Lügen erst im Laufe des Tages beginnt, bis es endlich nach Einbruch der Dunkelheit beim Feierabendbier zu einem Delirium der Schwindelei eskaliert, das gerne mit einer Notlüge (auf Fragen der Kategorie „Wo kommst du jetzt her?“) endet.

Als Grund für dieses tägliche Absinken in den Sumpf moralischer Wurmartigkeit postulieren die verantwortlichen Forscher: Um Lügen zu vermeiden, brauche es Selbstkontrolle, und die ist höchst anstrengend. Weil der Mensch nun mal eine faule Sau ist, hat er irgendwann keine Lust mehr, den natürlicherweise aus ihm heraus erumpierenden Lavastrom von verlogenen Salm und Seim zu unterbinden.

Man möchte meinen, so sei zu erklären, daß in den Redaktionen einstmals als aufrichtig zumindest geltender Zeitungen heutzutage bis in die späte Nacht hinein in die Tastaturen gedroschen wird: Vormittags könnte das, was in einem üblichen „Wirtschafts“-Teil drinsteht, niemand absondern, ohne den dringenden Wunsch zu verspüren, den Nachmittag in einem Beichtstuhl zu verbringen.

Ebenfalls erklärbar wird auf diese Weise, was sich in dem Bereich abspielt, den man heutzutage für „zwischenmenschlich“ hält: Was abends damit beginnt, daß man sich mit treuherzigen Blicken gegenseitig in den Augen herumstochert und sich einen Backenmuskelkater zusammengrinst bei dem Versuch, eine Packung „Streicheleinheiten“ zu erwerben, endet gerne morgens mit der herausdiskutierten Erkenntnis, eine weitere „Arbeit“ an der „Beziehung“ sei nicht mehr zielführend und profitabel, der Austausch zweckstrategischer Körperberührungen daher umgehend einzustellen und auf ein neues Objekt zu richten, das man unter zukunftsökonomischen Ertragsgesichtspunkten aus dem verfügbaren Angebot wählt und nach eingehender Prüfung in den Warenkorb legt.

Vielleicht liegt hier eine tiefere Erkenntnis vergraben: Möglicherweise ist das, was der heutige Mensch zwischen Schlafstatt, Karrierefabrik und Freizeitpark, zwischen Konsumartikelabgabestelle, Wahlkabine und virtuellem Gebimse, zwischen Autobahn, Sexualmarkt und Talkshow und den Kultstätten diverser Religionen von „Marktwirtschaft“ bis Kundalini so zusammenlebt, insgesamt und sonders so falsch, daß aus seinem Hirn nichts anderes mehr herauskommen kann als Lügen – so wie aus einem Blumentopf, in den man einen Distelsamen legt, niemals ein Pfirsichbaum herauswachsen wird?

Aber ach: Da sehe ich den Herrn Adorno winken, und ehe er mir mit seinem Zaunpfahl wegen Disteldiskrimierung und des Exports von Eulen nach Athen zu Leibe rückt, werde ich nun lieber in ein Caspar-David-Friedrich-Gemälde entfliehen.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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