Frisch gepreßt #307: Bruce Springsteen „High Hopes“

Die Frage der Verehrlichkeit beziehungsweise Verwerflichkeit populärer Musik stellt sich kaum je irgendwo so dringlich und ambivalent wie bei dem 64jährigen Bruce Frederick Joseph Springsteen. Da hagelt es nur so die i/y-o-Wörter: Symptom, Ikone, historisch, Syndrom, Mythos … „Hero!“ brüllt der autofahrende Amerikaner dazu, steigt aufs Gas und wähnt sich im Stande sozialer Gerechtigkeit mittel Gitarrenakkord und Trommelknall (sein Nummernschild plärrt dazu den aus „Breaking Bad“ bekannten Slogan: „Live free or die!“) und ahnt nicht, daß er damit eine höchst sarkastische Beschreibung des Mannes, der ein Auto sein wollte, nachstellt, über die Tom Robinson schon 1977 nur mit Gänsehaut und Zunge in der Backe lachen konnte: „Furlined seats and lettered windscreen / Elbow on the window sill / Eight track blazing Brucie Springsteen / Bomber jacket, dressed to kill.“

Bruce Springsteen ist einer der dümmsten und zugleich einer der weisesten Männer der Rockgeschichte, Punkt. Der Titelsong seines neuen Albums (mit dem es, plump as plump can, anhebt) splattert Klischees durch die Gegend wie ein Mixer ohne Deckel, von „Monday morning“ und „Sunday night“ und „every mother with a baby crying“ und daß es nicht viel braucht, „to kill a loving smile“; dazu rasselt ein hüftlahmer Bo-Diddley-Beat, und eine Gitarre jault im Kachelraum, as if 1985 never happened.

Andererseits sollte, wer es schafft, den Titelsong von „The River“ (1980) ohne drei Tränen im Augenwinkel und senkrecht stehendes Haupthaar zu hören, einen Arzt aufsuchen und prüfen lassen, ob in seinen Adern noch etwas anderes fließt als die grüne Melange des Zynismus. Exemplarisch (und sicherlich historisch-ikonisch) niedergelegt ist dieses mesmerisierende Mißverhältnis in „Born In The USA“ (1984), dem die grauen Männer hinter allen US-Präsidenten von Kennedy bis Bush, die mit der diktatorischen Durchsetzung des weltumspannenden Kriegskapitalismus drei bis fünf Generationen um ihr Leben brachten, einen Nationalismus hinzu applaudierten, ohne zu merken, daß sie sich mit den Textzeilen, die sie da mitgrölten, selber ins Gesicht spuckten.

Genau: „ohne zu merken“ zum zweiten. Bei Springsteen merkt nie jemand was, und er selber ahnt offenbar auch nie, was er tut. Nur so einem konnte es gelingen, Woody Guthries Hymne der amerikanischen Arbeiter und Entrechteten zum Stadionbrüller der dumpfstolzen Colasäufer und Waffennarren umzumodeln, ohne (!) zu (!) merken (!), daß es am Ende der Ku-Klux-Klan selber war, der die kommunistischen Parolen mitgrölte. Andererseits wüßte ohne ihn vielleicht kein Zeitgenosse Mitte 40 mehr, wer Woody Guthrie überhaupt war.

Bruce Springsteen ist (Achtung, Magenkrampf!) der Rocker des kleinen Mannes, das Opium für den Tankwart, der Sozialrechtslehrer für den Bon-Jovi-Fan und der Katalysator der merkwürdigen Reaktion, die dafür sorgte, daß in den USA die längst fällige Revolution nur im Baseballstadion und auf dem Highway stattfindet. Der Prediger der Massen und ihr Bändiger: O ja, Jungs, alles ist gemein und furchtbar, und jetzt gehen wir hin und tun unseren Job! Der Mann, der singt wie ein Bergarbeiter, den jede Zeile im Kehlkopf und im Herzen den Schmerz der Jahrhunderte spüren macht.

Nebenbei hat er ein paar der schönsten und typischsten und ein paar der fürchterlichsten und auch typischsten US-amerikanischen Rocksongs aller Zeiten geschrieben. Und wieder ist es oft so, daß niemand was merkt. Zufallswahl: „Fire“ – den schrieb er 1977 für Elvis Presley, der aber leider starb, bevor der Postbote kam. 1979 hatten die Pointer Sisters damit einen Hit, und die meisten Springsteen-Konzertbesucher, die das Lied hörten, dachten, der covert da einen Ur-Oldie, nur weil das Lied so dumm war: „I’m driving in my car …“, na klar.

Und freilich ist ein Großteil dieses neuen, achtzehnten Albums so dumm und peinlich wie der Titelsong (für den Springsteen nur insofern etwas kann, als er ihn nach einer ersten Aufnahme 1995 noch mal ausgegraben hat: geschrieben hat ihn Tim Scott „Ledfoot“ McConnell) und das Cover. Aber nicht nur, sondern auch schön. Es ist ein Sammelsurium alter Songs, Überreste und Neuversionen, von denen man insgesamt gestehen muß, daß das Gefühl, beim Hören einen Teil der eigenen Lebens- und zugleich der Weltgeschichte zu erleben, nicht zu unterdrücken ist.

Und dann aber: sind noch zwei Coverversionen drauf, bei denen einem (mögen sie noch so mainstreammäßig aufgebonzt sein) der Hut ins Genick fällt – „Just Like Fire Would“ von den schmählich vergessenen, wahrhaft heroischen Saints. Und „Dream Baby Dream“ von Suicide, den vielleicht wüstesten Außenseitern der US-Musikgeschichte. Daß die es somit über einen Umweg von hunderttausend Meilen und 35 Jahren ins Wohnzimmer des Tankwarts geschafft haben, ist ein Trick, den nur dieser Mann hinkriegt. Ohne es zu merken (wahrscheinlich).

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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