Wenn man zwangsweise ein paar Wochen lang ohne mobile Verbindung zu NSA und sonstigen Datensammeldienstleistern durch die Weltgeschichte läuft, macht man eine merkwürdige innere Veränderung durch: Irgendwas fehlt, und man fragt sich, was das ist. Geht es einem da so ähnlich wie der modernen Turbokuh, die ohne tägliche Abzapfung mittels Melkmaschine dazu verurteilt ist, einen Fluchtversuch in Freiheit und Selbstbestimmung mit einem geplatzten Euter zu bezahlen? Geht der unbewußt und unbemerkt anerzogene Mitteilungsdrang wirklich so weit, daß der Mensch ohne Handy irgendwann vor den Pforten der Schlapphutfirma in Pullach oder sonst wo landet und flehentlich fleht, seine Daten (Telephonnummern, Schuhgröße, Kalorienverzehr etc.) offenlegen zu dürfen?
Immerhin so weit bin ich noch nicht, und bisweilen empfinde ich es als angenehm, nicht dreißig Prozent der wachen Zeit ein „Display“ anschauen zu müssen, das sich selbst für die Welt hält. Durch den Entzug geraten andere, sonst schmählich vernachlässigte Geräte in den Blick. Den Fernseher anzuschalten kann man sich zwar erst nach Monaten überwinden – zu schlimm ist die Erinnerung an das letzte Mal, als man drei Minuten lang fassungslos in einen „Talk“ hineingeriet, dessen sprachlich-grammatisch-inhaltliche Substanz Grund genug für einen sofortigen Antrag auf Auswanderung in ein fernes Sonnensystem wäre.
Aber zum Beispiel bemerkt man plötzlich, daß da noch ein kunststoffernes Teil im Flur herumsteht, das ansonsten ab und zu bimmelt, ohne daß das irgendwer bemerkt. Jetzt überkommen einen bei seinem Anblick nostalgische Schwingungen; wehmütig entsinnt man sich der funkfreien Nachmittage des frühen Oberschülerlebens, als man kübelweise Nullinformationen aufsaugte wie eine verspätete Wespe im Oktoberbiergarten den letzten verschütteten Tropfen, nur weil sie dem drei Häuserblocks entfernten, aber per Phantasie unmittelbar am eigenen Ohr materialisierten Mund einer Angebeteten entdrangen.
Und siehe, nein: höre da, schon schellt es, das – wie man heute diskriminierend sagt – „Festnetz“, und begierig eilt man herbei. Aber die Frage, wer so altmodisch ist, sich noch auf derartige Kommunikationswege zu begeben, ist schnell beantwortet: „Herzlichen Glückwunsch!“ schnarrt eine Blechstimme und teilt mit, man müsse nur eine Taste drücken, um einen „Hybrid-BMW“ zu gewinnen, von dem man sich fragen könnte, wer ihn zu diesem offenbar vollkommen sinnlosen Ziel gekauft oder überhaupt erst „erstellt“ hat, denn der vermeintliche Reklameanruf ist gar keiner: Vergeblich wartet man auf nähere Informationen zu dem Produkt, für das geworben werden soll. „Goodbye“, schnarrt die Blechstimme, und das war’s.
Derartige Verbindungen zur Außenwelt wirken ernüchternd. Man schaut aus dem Fenster, sieht einen Herbst und richtet den Geist nach innen, in die Wände, in denen man die nächsten paar Monate damit verbringen wird, zu harren, bis endlich ein Frühling heranbraust und das tolle Leben wieder weitergeht.
Was, fragt man sich, tun normale Menschen ohne Funkverbindung den ganzen Herbst und Winter lang in ihrer Wohnung, wenn sie nicht dem Schnarren der Blechstimmen lauschen oder sich vom bewußtlosen Geplärr der FernsehhampelmännerInnen das Hirn in einen Kippschalter verwandeln lassen, der die gesamte Vielheit der Lebensmöglichkeiten auf die Alternativen „Rotgrün“ und „Schwarzgelb“ zusammenkastriert?
Ich weiß es: Sie kochen Suppe. Das ist ein uralter, wesentlich deutscher Brauch, der zwar möglicherweise auf ein Mißverständnis zurückgeht (das althochdeutsche „sûfan“, dem wir das Wort verdanken, heißt „saufen“, wofür sich Bier entschieden besser eignet als heißes Salzwasser), aber für enorme Auswüchse kultureller Betätigung gesorgt hat. Hundert Teller Suppe, so teilt eine sicherlich eigens zu diesem Zweck (oder zu welchem sonst?) gegründete Behörde namens „Deutsches Suppen-Institut“ mit, verzehre der Deutsche pro Jahr.
Und zwar besonders gerne im Winter, was das „Deutsche Suppen-Institut“ damit erklärt, daß der Verzehr einer Suppe als „liebevolle Umarmung von innen“ empfunden werde. Besonders „wertgeschätzt“, erfahren wir staunend, wird selbst zubereitete Suppe. Nun ja, denken wir, Deutschland ist eben nicht nur „Suppenland“, sondern auch eine Hochburg der Masturbation, wo man sich eben gerne mal liebevoll selbst von innen umarmt, während draußen Sturm und Weltgetöse toben. Aber nein: So sehr er die Selbstzubereitung wertschätzt, der Deutsche, so wenig setzt er das Wertschätzen „aktiv“ um, greift statt dessen zu Tüte und Büchse und wärmt bloß auf, was irgendwo aus Schlachtereispreißeln und Gemüseresten industriell zusammengemanscht wird.
Und während man noch philosophelnd zu ergründen versucht, wieso der Deutsche sich seine innere Selbstumarmung ausgerechnet im Winter besonders gerne anhand eines Produkts mit der Bezeichnung „Frühlingssuppe“ aus dem Supermarktregal zupft; während man sich weiterhin vorstellt, mit welchen technischen Mitteln sich das „Deutsche Suppen-Institut“ das für derartige Verkündungen nötige Datenmaterial verschafft hat … fühlt man sich unversehens hineingezerrt in einen gigantischen Kessel voll blubberndem Seim, in dem ein monströses Suppenhuhn herumrührt und sich dabei in einem anatomischen Irrsinnsakt innerlich selbst umarmt. Und da zieht man die Notbremse, läßt Suppe Suppe und Herbst Herbst sein und eilt hinaus, um sich mit einem neuen Mobiltelephon wieder mit der wirklichen Welt zu verbinden. Herzlichen Glückwunsch, NSA, Goodbye, „Deutsches Suppen-Institut“.
Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.