Belästigungen #420: Von der vorrevolutionären Bedeutung des Feigenkaffees (und anderen Nebensachen)

Unheilvolles hat sich zugetragen, blitzartig fulminant. Es war förmlich wie ein Heideggersches Geworfensein ins Nichts, als vor einiger Zeit ohne Vorwarnung mein „Reformeifer“ erlahmt ist. Und das ausgerechnet als das amtlichste Uraltschlachtroß der bräsigen deutschen Biedermannwochenzeitungsjournaille verkündete, demnächst werde „die Krise“ ganz von selber heilen wie ein kleines Kratzipatzi-Wehwehchen, wenn nur eine winzige Kleinigkeit nicht passiere, nämlich wenn nur nicht „der Reformeifer erlahmt, weil die Menschen im Süden nicht mehr bereit sind, die Kürzungen zu erdulden“. Und nun: ist er also erlahmt, der „Reformeifer“ zumindest eines Menschen aus dem Süden.

Ein kleiner Trost ist, daß wir alle wissen, was die heruntergebeteten Blödwörter bedeuten: „Krise“ dient dazu, das schuftende Buckelsklavenvolk mittels „der Kürzungen“ (die nicht genauer bezeichnet werden müssen – man weiß eh, um was es geht) noch strenger auszubeuten und den Ertrag seiner Bucklerei in die Glanzschlösser und Börsenpaläste der „Besserverdienenden“ zu pumpen, wo der Mammon in die Tresore quillt wie Tubensenf unter einem Elefantenarsch.

Die Bundestante nennt das dann „gemeinsame Kraftanstrengung“, womit sie nicht ganz unrecht hätte, wenn sie ihresgleichen und ihre Befehlsgeber aus der Gemeinsamkeit ausdrücklich ausklammern täte. „Reform“ wiederum meint den Zinnober als Gesamtprojekt, das erst zu Ende ist, wenn ein einzelner Weltkaiser (der kein Mensch mehr sein wird, sondern eine Marke oder ein Konzern) rechtmäßig alles besitzt und alle anderen für sein Wohl sorgen müssen.

Einen „Reformeifer“ kann es deshalb naturgemäß nur bei denen geben, die von der „Reform“ profitieren. Alle anderen, von denen der „Eifer“ in den Brandreden der wirtschaftsfaschistischen Propagandabrüller verlangt wird, könnten sich genauso gut selbst ein Bein abschneiden, damit der Vorstand der Deutschen Bank eine Haxe auf den Galatisch bekommt – und sei es nur um zu beweisen, daß damit nichts geholfen wäre: Die wohlgeborenen Herren werden sofort zwei weitere Haxen fordern, weil unerwarteterweise plötzlich ihr Hunger ein Wachstum erlebt hat.

So weit, so banal; nun zum Kleinen, an dem sich auf der Welt das meiste erweist. Nämlich habe ich das Erlahmen meines „Reformeifers“ erfahren, als ich Feigenkaffee kaufen wollte. Für die Gentrifizierten: Das ist ein wohlriechendes Pulver aus gerösteten Feigen, das man in Kaffee hineintut, damit er nicht versehentlich so schmeckt wie euer Lattengeblödel, und das es bis vor kurzem im Supermarkt zu kaufen gab. Diesmal suchte ich vergeblich, fand statt dessen an seiner Stelle im Regal schon wieder zwölf neue Sorten Blechkapseln für schweinsteure Yuppie-Wegwerfmaschinen.

Der junge Mann, den ich diesbezüglich befragte, erwies sich als Praktikant, der mir mitteilte, er habe keine Ahnung und (dies der Subtext) sowieso keinen Bock, weil er, wenn er nicht vom Arbeitsamt in die Sklaverei gezwungen worden wäre, etwas besseres mit dem schönen Tag anzufangen wüßte als ohne Bezahlung Kisten durch diesen Laden zu wuchten. Sein Vorgesetzter hatte noch nie von Feigenkaffee gehört und verwies mich an den Filialleiter. Dieser wiederum tröstete mich mit der Information, selbstverständlich werde das Sortiment seines Ladens mitnichten reduziert, sondern vielmehr stetig erweitert und umfasse mittlerweile so und so viel zigtausend Produkte.

Diese Produkte, erklärte ich ihm, bestünden zu neunzig Prozent aus denselben Zutaten – im Fall von „Nahrung“ meistens: Weißmehl, Pflanzenfett, Tomatenkonzentrat sowie kleinen Mengen Müllsalami und Fabrikkäse. Ob es, wo wir schon dabei waren, wirklich nötig sei, das Kühlregal kilometerbreit mit „Gouda“ zu füllen, der die unterschiedlichsten Markenzeichen trage und dennoch nur aus ungenießbarer Eiweißersatzmasse bestehe?

Da seufzte er und meinte (freilich: in etwas anderem Wortlaut), er esse „das Zeug“ ja auch nicht und finde es im Grunde jammerschade, daß nicht er für den Einkauf zuständig sei, sondern eine Zentrale irgendwo in Nordrhein- oder sonst einem Westfalen, die eben feststelle, daß Gouda und Tiefkühlteigzeugs gut gehen, weshalb man irgendwann nur noch Tiefkühlteigzeugs und Gouda anbieten werde, dann aber in jeweils einer Million Sorten. Dazu werde es dann zehntausend „Gourmet“-Zeitschriften geben, die dem ahnungslosen Pack erklären, welche von den identischen Marken „hochwertig“ seien und wie man aus dem nutzlosen Geraffel etwas „Leckeres“ zubereiten könne.

Demoralisiert zog ich von dannen und fühlte meinen „Reformeifer“ zerpludern wie ein Luftballon ohne Hals. Geld kann ich nicht essen; es ist mir also weitgehend wurst, daß der mir rechtmäßig zustehende Anteil am deutschen Gesamtvermögen auf dem Schweizer Konto irgendeines Reformkrisenabsahners vergammelt. Aber, lieber Freund, bevor ich mich von „Gouda“, Tiefkühlteigzeugs und Latteplörre ernähre – bevor ich eine derartige „Kürzung erdulde“, bricht eine ganz andere Krise aus, der mit „Reformen“ nicht mehr beizukommen sein wird.

Eines nämlich könnt ihr uns nicht nehmen: das Naturrecht auf ein gutes Leben. Und wenn sich erst einmal bis in den etwas weiteren Süden herumspricht, daß ihr genau das vorhabt, nein: seit Jahrzehnten betreibt, nur um noch ein paar Nullen mehr auf euren Kontoauszügen zu lesen, könnte es selbst im Norden und sogar in euren schillernden Schlössern und Hochburgen ungemütlich werden.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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