Belästigungen #422: Raketen für Forellen, Olympia zum Wohnen (auf dem Mars)

Indien, habe ich heute erfahren, hat gestern eine „Sonde“ zum Mars geschossen (oder das zumindest versucht). Das ist an Sinnhaftigkeit kaum zu überbieten – schließlich soll das Ding von dort aus ab September 2014 „Daten senden“. Davon, das weiß inzwischen jedes Kind, kann man nie genug haben. Und nachdem die Geheimdienste von uns Homo-sapiens-Würsteln schon sämtliche Daten eingesammelt haben, sind nun eben die Marsmöpse dran, von denen man seit der legendären Dokumentation von Orson Welles vor 75 Jahren nicht mehr allzu viel gehört hat. „Unsere Daten“, verkündet Udipi Ramachandra Rao, der (wegen allzu vieler beim Start geplatzter Raketen) ehemalige Chef der indischen Raumfahrtbehörde, „waren und sind von großer Bedeutung für Land- und Fischereiwirtschaft.“

Das ist freilich Blödsinn. Herrn Welles’ Radiobeitrag war so echt und glaubwürdig wie ein beliebiges Fernsehfilmchen zu Politik und Wirtschaft, und den Indern geht es ebensowenig wie allen anderen Raketenballerern darum, die Forellenzucht und das Kompostwesen auf fremden Planeten zu studieren. Die paar Wassermoleküle, die eine indische Sonde vor fünf Jahren angeblich auf dem Mond entdeckt hat (und die wahrscheinlich der zerstäubten Notdurft amerikanischer Astronauten entstammten), sind sicherlich auch kein hinreichender Anlaß für ein Land, in dem etwa 660 Millionen Menschen an kapitalismusbedingter Unterernährung leiden (und alljährlich 2,1 Millionen Kinder vor dem fünften Lebensjahr sterben), 660 Millionen Euro pro Jahr für Sonden auszugeben.

Schließlich haben wir genug Berichte über die Raumfahrt gesehen, um zu wissen, worum es dabei geht und worauf nun auch die Inder scharf sind: Auf so ziemlich jedem Himmelskörper in Reichweite menschlicher Raketen fahren beziehungsweise rosten inzwischen Autos herum, vom „Lunar Roving Vehicle“ (einer Art moderner Großstadtpanzerkarre ohne Blech) bis hin zu diversen Roboterschnauferln, die sich zur Schadenfreude ihrer per Kamera verbundenen Hersteller quietschend und ruckelnd über planetare Sanddünen quälen.

Der Mensch, lernen wir daraus, muß das, was ihm am wichtigsten ist, überall tun, sogar da, wo er selber gar nicht hinkommt, sondern nur Raketen hinschießen kann. Schließlich geht es hier um die Zukunft: Weil die müde alte Erde infolge des Autofahrens (und ein paar anderer menschlicher Aktivitäten) in absehbarer Zeit zwar nicht für Autos, aber für Menschen unbewohnbar sein wird, muß dann eben auf dem Mars, der Venus, dem Pluto und in allen möglichen fernen Galaxien herumgegurkt und im Stau gestanden werden, bis auch dort alles vergast, verlärmt, vergiftet und zugeschrottet ist. Dann wird’s schwierig, aber das geht uns nichts mehr an – bis dahin werden die Autos sicherlich einen Weg gefunden haben, ganz ohne dieses überempfindliche organische Kroppzeug auszukommen, das bei jeder windigen Umweltvernichtung gleich ausstirbt.

Ein paar andere Sachen sind dem Menschen auch noch wichtig, zum Beispiel eine Wohnung, damit er sich hin und wieder vom Autofahren ein bisserl ausruhen und Fernsehmeldungen über das unerläßliche Wachstum der Autoindustrie entgegennehmen kann. Wohnen hat, soweit ich informiert bin, auf fremden Planeten noch niemand ausprobiert. Das ist erstaunlich, selbst wenn man berücksichtigt, daß der Mensch oft und gerne in Gegenden Auto fährt, wo er nicht wohnt und teilweise nicht mal wohnen kann.

Aber es läßt sich erklären, wenn man die selbstverständlich absolut unparteiischen Informationen berücksichtigt, mit denen uns unser Oberbürgermeister im Namen des Stadtrats dankenswerterweise anläßlich des bevorstehenden „Bürgerentscheid“ brieflich versorgt hat: „Das neue Olympische Dorf (inkl. Mediendorf) in München“, steht da zu lesen, „würde z. B. dazu führen, daß nach den Spielen den Bürgerinnen und Bürgern dauerhaft circa 1.300 dringend benötigte und bezahlbare Wohnungen zur Verfügung stehen.“

Nun haben wir endlich verstanden, woher diese merkwürdige „Wohnungsnot“ kommt, die in München (und anderswo) seit Jahrzehnten ihr übles Unwesen treibt: Es ist schlichtweg verboten, „dringend benötigte“ Wohnungen „zur Verfügung zu stellen“, wenn man nicht vorher einem autokratischen, mutmaßlich mafiösen, korrupten, halbkriminellen und gemeingefährlichen Verein ein paar Milliarden in den Hintern schiebt, damit der ein paar Tage lang ein lächerliches Wettbewerbspropagandatheater abzieht und hinterher mit den Profiten abhaut, ohne auch nur einen Pfennig Steuern zu zahlen. Nun wissen wir auch, weshalb Zaragoza, Barcelona, St. Moritz und Davos auf den teuren Irrsinn lieber verzichtet haben: Dort gibt es bereits genug Wohnungen!

Die gibt es in München allerdings auch, nur stehen in einem Großteil davon (und zwar vor allem in den schönen) nachts, wenn der Mensch am liebsten wohnt, nur Schreibtische, Computer, Drucker und ausgeschaltete Kaffeemaschinen herum, mit denen tagsüber menschliche Besucher Dienstleistungen leisten und das Wachstum ankurbeln. In einem kleineren Teil davon wiederum steht überhaupt nichts, die stehen selber – und zwar leer, aus diversen seltsamen Gründen, die kein Mensch versteht, die aber auch irgendwas mit Wettbewerb, Leistung und Wachstum zu tun haben.

Beides müßte nicht sein und wäre leicht zu ändern, und dann müßte München auch keine „Olympischen Winterspiele“ über sich ergehen lassen. Sondern diesen Schmarrn könnte man dann dorthin verlegen, wo es tatsächlich keine Wohnungen gibt, wo diese aber eines Tages dringend gebraucht werden, damit sich jemand um die Autos kümmern kann: auf den Mars, die Venus, den Pluto und in alle möglichen fernen Galaxien.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle 14 Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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