Ich weiß schon: Schwabing gibt es nicht. Leider bin ich an den Ort, den es nicht gibt, gerade erst aus dem etwas weiter nördlichermüncherischen Exil zurückgekehrt, weswegen meine Bibliothek noch ein der alphabetischen oder sonst einer Ordnung völlig entrücktes, zimmerdeckenkratzendes Gebirge ist; so muß ich den Versuch unterlassen, Zeugen zum Zitieren heranzuziehen, weil dieses Heran- zugleich ein Herausziehen bedingte, welches unausweichlich zu einer Buchrutschkatastrophe nicht zu ahnenden Ausmaßes führen würde. Dann gäbe es nicht nur Schwabing nicht, sondern möglicherweise auch mich nicht mehr, womit auch nichts bewiesen und wir keinen Schritt weiter wären.
Schwabing gibt es nicht. Hat es wahrscheinlich noch nie gegeben, wenn das stimmt, was man so hört, denn die Erinnerungen derer, nach deren Meinung es jedenfalls jetzt nicht mehr das Schwabing gibt, das es vielleicht früher einmal gegeben hat, oder jedenfalls das, was es nicht mehr gibt, nicht mehr so ist wie es irgendwann mal war oder wenn man es genauer betrachtet eigentlich überhaupt nie so war, wie es angeblich mal gewesen sein soll, – diese Erinnerungen lassen sich wie bei einer jener lustigen Holzpuppen aus Rußland (das es übrigens seit einigen Jahren wieder gibt, was aber hier nichts zur Sache tut) immer weiter zurückverfolgen und entlarven sich dabei rückwärtig als Gebräu aus Schönfärberei, Augenwischerei, mutwilliger Selbsttäuschung, verlogener Nostalgie und überhaupt Blödheit, bis man schließlich beim Zurückverfolgen in die Nähe des Urknalls gerät oder doch zumindest in eine Zeit, in der es Schwabing ganz amtlich noch nicht gegeben hat.
Wenn wir einmal kurz das in fast allen Lebenslagen unverzichtbare Wortregister zu Georg Christoph Lichtenbergs Schriften und Briefen aufschlagen – wodurch dank Gipfellage das Gebirge nur ein wenig ins Wanken kommt –, geraten wir in den Besitz einer schriftlichen oder eben gerade nichtschriftlichen, sozusagen negativen Evidenz: Schwabach – Schwaben – schwach; nichts dazwischen. Andererseits – keine Angst, ich bin vorsichtig und grase höchstens ein bißchen die Almwiesen ab – erklärt uns „Dollheimers Großes Buch des Wissens“: Schwabing, n. Stadtteil von München; Künstlerviertel. Das muß man nur richtig lesen: nicht Stadtteil von München ist Schwabing demnach, und ein Künstlerviertel schon gar nicht. Wenn wir dann noch beiläufig erfahren, daß im Februar 1900 in Schwabing von Abtrünnigen des MTV 1879 der FC Bayern gegründet worden sein soll, dann sind wir schließlich ganz sicher: denn einen FC Bayern gibt es ja sowieso nicht.
Es nützt gar nichts, daß meine Grundschullehrerin Frau Gebert mir vor vielen Jahren weismachen wollte, München habe einst nicht nur eine Stadtmauer, sondern auch vier Tore gehabt, von denen durch einen dummen Zufall ausgerechnet nur das Schwabinger Tor nicht erhalten sei. Wohin hätte es denn wohl führen sollen? Das läßt sich überprüfen. Tatsächlich finde ich in Bauer/Pipers Buch „München – Die Geschichte einer Stadt“ eine Karte des „bürgerlichen München um 1500“ und in der Legende die Auskunft „13 Schwabinger Tor oder Unseres Herren Tor“. Aber wie zu erwarten, ist von der Zahl 13 auf der Karte höchstens mit viel Phantasie eine Andeutung der Ziffer 3 zu erkennen, der Rest zur Vermeidung einer allzu dreisten Lüge in den Falz geklebt.
Dann kommt man uns auch gerne mit den Bajuwaren, aber deren Name ist aus dem vielsagenden Wort Boiaheimvarii entstanden, das nicht etwa eine niederbayerische Version der Meldung des betrunkenen Familienvaters ist, er sei nun oder doch recht bald daheim, sondern schlicht und in etwa „die Böhmischen“ bedeutet. Einige Zeit nach deren Einwanderung in die Münchner Umgegend, im Jahre 782, erfahren wir erstmals von einer Siedlung namens Suuapinga, woraus später, weil leichter auszusprechen, das Wort Schwabing wurde – ein „Böhmisches Dorf“ mithin, und wenn wir nun noch bedenken, daß das Jahr 782 in die Regierungszeit Karls des Großen fällt und ernsthafte Wissenschaftler heute davon ausgehen, daß nicht nur derselbe nie gelebt hat, sondern wahrscheinlich seine ganze Epoche ein großer Schwindel ist, der uns zeitrechnungstechnisch um mindestens zweihundert Jahre zurückwirft, dann können wir nicht mehr umhin festzustellen: Ein böhmisches Dorf, dessen Gründungsjahr nie stattgefunden hat, das kann es gar nicht geben.
Müssen wir noch erwähnen, daß laut Auskunft verläßlicher Chronisten die bewußte Gegend vor gut 100 Jahren als „Heimstatt für esoterische Geheimlehren, Spiritisten und Schlawiner“ galt, in der nicht nur die „Schwabinger Schattenspiele“ der Herren Bernus und Wolfskehl gegeben wurden, sondern offenbar die Schlawinereien so wenig Maß und Ziel kannten, daß man sich gleich einen ganzen Stadtteil samt anhängiger Kultur zusammenreimte? Thomas Mann soll dort gelebt und die berühmte Zeile „München leuchtete“ geschrieben haben. Seien wir gnädig: Dies nun ist doch recht gut möglich, denn Thomas Mann hat nachweislich einen ganzen Haufen Zeilen geschrieben, und daß ihm eines Morgens beim Hinaustorkeln aus einer Literatenkneipe, in der ihm Stefan George die ganze Nacht die Ohren und den Kopf mit imaginären Welten und vielleicht sogar einem imaginären Stadtteil vollgewolkt hat, – daß ihm da eines Morgens im Atomrausch der imaginäre Stadtteil so manifest geworden ist, daß er ihn am Ende sogar wirklich Halo-artig kurz aufschimmern und die etwas entfernter liegende Stadt München geisterhaft beleuchten hat sehen, das können wir uns mit ein bißchen Phantasie doch vorstellen. Beweisen tut es aber höchstens das Gegenteil.
Und doch: wenn man manchmal so durch die Gegend spaziert zwischen Schleißheimer Straße und Englischem Garten, zwischen Karl-Theodor-Straße und Elisabethmarkt, wenn man sich da die Leute so anschaut und die Häuser und die Hunde und die Autos sich ebenso wegdenkt wie die vielen Agentur-, Büro- und Kanzleischilder, die andeuten, daß hier gar keine Leute und Hunde, sondern nur Autos wohnen; wenn man zufällig mal nichts zu tun hat und in eine unscheinbare Tür hineinfällt, hinter der sich ein paar Tische und ein Zapfhahn verbergen, wenn man dann die Ohren aufmacht und den Mund auch und danach unbedingt persönlichkeitsverändert weiterflaniert und sich auch noch die Mobiltelephonzentralen, Kaufhäuser und Kettenfraßstellen wegdenkt und in die nächste Tür hineinfällt und das immer so weiter, bis man sich am Ende gar nichts mehr wegdenken muß, weil außer ein paar Leuten und einem seltsamen Gefühl gar nichts mehr da ist; wenn man dann am nächsten Morgen mit einem riesendicken Kopf immer noch weiterspaziert und immer noch nichts von all den Schrecklichkeiten, die man sich weggedacht hat, wieder da ist, bis man endlich gegen Nachmittag, von seligen Erinnerungen umnebelt und vom Chinesischen Turm beschattet, friedlich in ein Buch hineinschlummert … dann ist man fast geneigt, das Schwabing zu nennen.
Aber die Antwort auf die Frage, ob es das gibt, finden wir weder in der innersten Holzpuppe noch in den Tiefen der Büchergebirge, sondern wahrscheinlich nur in uns selbst. Und angehen tut es keinen was, weil die dann doch bloß wieder fragen, ob das wirklich so gesund ist.
Um meinen Eingangssatz zu zitieren: Ich weiß. Nämlich selbstverständlich auch, daß sich hinter dem ganzen Romantisieren und dem Gejammer, was es alles nicht mehr oder gar überhaupt nicht gebe, nur zwei Dinge verbergen: der Versuch, als Zuwage den Eindruck ins Unterbewußtsein des Hörers zu schmuggeln, da gebe es doch wahnsinnig viel Schwabingerisches, dem Schwabinger sei Schwabing aber noch lange nicht Schwabing genug, was auf sehr hohe Ansprüche hinweist und glauben macht, es gebe noch viel mehr Schwabing, als es überhaupt gibt. Und zweitens natürlich der Wunsch, man möge widersprechen, vehement, vorsichtig, wie auch immer; nur: Bitte her mit der Behauptung, das sei alles viel zu pessimistisch gesehen!
(Dieser Text entstand im Juli 2001 aus unklaren Gründen und mit unbekanntem Zweck und Ziel; erschienen ist er meines Wissens bislang nicht. Möglicherweise fand er teilweise Eingang in meine Dankesrede zur Verleihung des „Schwabinger Kunstpreises“, die etwa um diese Zeit herum stattfand.)