Belästigungen 10/2022: Der dunkle Gipfel der Angstmacht

Als ich in den Kindergarten kam, war das eigentlich recht lustig. Ich lernte neue Kinder kennen, neue Witze und neue Geschichten. Wir hauten uns auch mal die Köpfe blutig, wenn es um ein besonders begehrtes Matchboxauto oder die einzige Blechschaufel im Sandkasten ging. Alles recht harmlos, und wenn sich mal einer am rostigen Stacheldraht aufspießte und mit Blutvergiftung ins Krankenhaus mußte, war er automatisch zwei Stufen stärker und eine Art Held.

Aber dann kam der 5. Dezember. Da sagte mir jemand: Morgen kommt der Krampus! Ich fragte, was das sei, und erfuhr, es handle sich um eine Art unmenschliches, grausiges Ungeheuer, das die Kinder, die etwas angestellt hatten, mit Eisenketten verprügle, in einen Sack stecke und davontrage. Bislang sei noch kein solches Kind lebendig zurückgekehrt.

Ich wußte, daß ich einiges angestellt hatte, zumindest in den Augen der Erwachsenen. Weil das Kindern halt so passiert: Man tut etwas, findet es lustig, und plötzlich ist es angeblich verboten. Zeigt mir ein Kind, dem so was noch nie passiert ist, und ich zeige euch ein Kind mit einer bedenklichen Verhaltensstörung (allerdings verstehe ich davon nicht sooo viel.)

Am nächsten Tag weigerte ich mich stur, in den Kindergarten zu gehen. Ich schrie, schlug um mich, drohte mit Selbstmord und Platzpatronen und stemmte mich mit beiden Fußsohlen in den Türrahmen. Niemand hatte eine Ahnung, was mit mir los war. Die anderen Kinder glotzten entgeistert, die Eltern waren ratlos, und ich konnte nichts tun als mich verweigern, weil man mir eingeschärft hatte: Egal, was passiert, niemals darfst du mit Erwachsenen über den Krampus sprechen! Sonst wird es erst richtig schlimm!

Kurz gesagt: Ich hatte einfach Angst, und das war etwas, was ich offenbar bis dahin nicht kannte.

Angst, so sagt man (13.000 Google-Treffer!), sei ein schlechter Ratgeber. Das leuchtet spontan ein. Man muß sich ja nur anschauen, welch glorreiche Ideen zum Beispiel dem sogenannten Gesundheitsminister Nosferatu Lallerbach im Minutentakt kommen, wenn er sich mal wieder einer heimlichen Sitzung mit seinem engsten Berater Professor Doktor Angst unterzogen hat. Daß von diesen gesundheitsministeriellen Ausstoßungen und Rotationen – mit denen er die deutschen Leitmedien schon außer Atem hielt, als selbst der fieseste Buchmacher Wetten, so was werde mal Gesundheitsminister, wegen Aussichtslosigkeit kategorisch ablehnte – daß davon jemals jemand auch nur einen Zehntel Tick gesünder geworden ist (was ja eigentlich die Aufgabe eines Gesundheitsministers sein sollte), glaubt nicht mal der Weihnachtsmann. Vielmehr erleben wir hier ein Phänomen, das man so beschreiben könnte: Angst macht Angst macht Angst macht immer mehr Angst macht krank.

Wie wirksam diese psychophysische Methode der Zerrüttung ist, merkt man an niemandem so deutlich wie an dem Minister selbst, den Karl Valentin – selbst ein legendärer Hypochonder – höchstens beschreibend nachstellen hätte können. Man hätte auf jeden Fall gemeint, Valentin sei das Original und Lallerbach die maßlos übertriebene Parodie. Der Mann ist so jenseits von allem, was man als „gesund“ bezeichnen könnte, wie eine Glühbirne mit 200 Stunden Lebensdauer, die nach 28.000 Stunden immer noch brennt: Man möchte nicht zu nah rangehen.

Angst tut weh, Angst verstört, schaltet die Wahrnehmung um. Das ist in manchen Situationen momentweise sinnvoll: Wenn es knallt, die Lawine daherrauscht oder die Giftschlange zischt, ist eine eingehende Diskussion der Vorgehensweise samt Quellenstudium und Einholung fachlicher Gutachten wenig sinnvoll. Da macht man es lieber wie das Pferd, läuft erst mal los und macht sich später Gedanken. Länger als ein paar Sekunden anhaltende Angst jedoch macht verrückt und krank und wirr. Angst löscht die Gegenwart, läßt die Vergangenheit verschwinden und die sowieso nicht existente Zukunft nicht mal mehr möglich erscheinen. Angst macht den Menschen zum irren Reaktionsbündel, das automatisch (das ist medizinisch belegt!) in Panik nach rechts unten wegtaucht, obwohl da der Mülleimer steht (ein Werbegeschenk der AfD).

Angst war in meiner Kindheit – abgesehen vom Krampus – etwas sehr Seltenes. Man erschrak, wenn beim Versteckspielen im Keller plötzlich der Hausmeister vor einem stand oder eine ziemlich genial geschlagene Flanke nicht im Tor, sondern in einer klirrenden Fensterscheibe landete. Man fürchtete sich, wenn man beim Rauchen erwischt wurde oder die blöden Halbstarken vom Nachbarhof einem ihr Ohnmachtsspiel zeigen wollten. Man hörte mit einem gewissen Gruseln, wie in einer Nachbarwohnung jemandem der Hintern versohlt wurde, und wenn man mit Platzpatronen Russisch Roulette spielte, konnte das ganz schön brennen. Aber hinterher war alles wieder gut.

Heutzutage sieht man Kinder durch die Welt stolpern, deren selbst noch kreuzinfantile Karrieremodelleltern noch viel mehr Angst haben als sie ihren Kindern machen. „Achtung, Heinz-Kevin, nicht da hingehen, dableiben, nicht anfassen, Händeabputzen, weg da, laß das, nein, Maske auf!“ Man fragt sich beim Anblick solcher alltäglichen Horrorszenarien, die der Nachwuchs reglos, blind und bemitleidenswert über sich ergehen läßt, wie krank man sein muß, um ein solch überfließendes Bedürfnis zu empfinden, die eigenen Kinder noch kränker zu machen, um sie angeblich zu schützen – vor der schlimmen, bösen, schädlichen, ansteckenden Welt, die einen ständig angreift und gefährdet und dort draußen ist. Und von der man völlig vergessen hat, daß man da eigentlich hineingehört. Und Kinder erst recht.

Angst macht dumm. Das kann man dem, der Angst hat, nicht vorwerfen. Er wird sich verhalten wie ein Vollidiot, wird um sich schlagen, krakeelen und alles kaputtmachen. Angst zu haben macht dumm. Angst zu machen ist böse. Oder besser: Es macht böse, anderen Angst zu machen, weil diese Fähigkeit einer der dunklen Gipfel der Macht ist. Wer es schafft, vielen Menschen Angst zu machen, der kann sie zu fast allem bringen. Auch dazu, die eigenen Kinder zu maskieren, stunden-, tage- und jahrelang. Auch dazu, die eigenen Großeltern einzusperren und einsam sterben zu lassen. Man könnte das Angstmacht nennen. Sie kommt immer unvermittelt: Man probiert es mal, stellt fest, daß es funktioniert, und denkt: Oho! Da geht noch mehr! Und schon ist man auf dem besten Weg, böse zu werden (oder wenigstens zu handeln), und merkt es nicht, weil man selber so Angst hat. Die spürt man aber nicht mehr, wenn einen die Macht durchpulst und die anderen zittern vor Angst und rufen: Hilf uns da raus, mächtiger Angstmacher!

Nach einem berüchtigten Propagandaminister des letzten Jahrhunderts, dem es gelang, einem ganzen Volk regelrecht mörderisch panische Angst vor einer Chimäre zu machen – der jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung in Gestalt eigener Mitbürger –, ist Karl Lauterbach ohne Zweifel der zweitgrößte Angstmächtige mindestens der deutschen Geschichte. Was er in den vergangenen zweieinhalb Jahren angerichtet hat, hätte man vor drei Jahren noch als Zivilisationsbruch empfunden. Oder als entgleiste und pervertierte Jahrmarktattraktion, eine Art wandelnde, allgegenwärtige Ein-Mann-Geisterbahn. Noch vor drei Jahren – als bereits jede Menge andere Angstkampagnen absolviert waren oder noch liefen, die uns heute im Vergleich wie Aprilscherze erscheinen – hat man sich anläßlich solcher Kampagnen im Kino schweißgebadet gegruselt, in der Gewißheit, danach ein Bier trinken und gemütlich ins Bett gehen zu können. Jetzt fehlt der Abspann; jetzt fehlt sogar der Notausgang.

Am gefährlichsten wird die Angst, die Angstmächtige machen, wenn sie eine Mehrheit auf engem Raum erfaßt, am besten umgeben von „Verharmlosern“, die nichts wissen wollen von dem Wahn. Das gegenseitige Aufpeitschen und die Demütigung von außen verwandelt die Angst in Wut und läßt sie anschwellen wie einen Dampfkochtopf mit verstopftem Ventil. Man erlebt dann, wenn das Ventil den Überdruck notgedrungen doch ablassen muß, die irrwitzigsten Ausbrüche eines völlig derangierten Heldentums, das sich aus der Panik speist: Atomkrieg? Her damit! Hauptsache, endlich raus aus der Angst!

Das ist übel, und meines Wissens hat noch nie jemand eine Lösung für dieses Problem, eine Bremse für diese Dynamik gefunden. Vielleicht gibt es dafür keine Lösung. Außer man stellt ganz nüchtern und realistisch fest: Der angedrohte Krampus ist ja gar nicht gekommen! Meine geheimen Übeltaten hat niemand aufgedeckt, und niemand hat irgendwen mit Ketten geschlagen oder in einen Sack gesteckt. Das wird noch kommen, sagt dann der Angstmächtige. Kann sein, antwortet man. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht bist ja nur du blöd genug, an so was zu glauben.

Es gibt nämlich vielleicht doch einen Weg aus der Angst: lachen.

Ist schon mal jemandem aufgefallen, wie lächerlich die Angstmächtigen – genau betrachtet und vor allem lachend betrachtet – sind? Ob Goebbels, Gates oder Lauterbach: Würden Sie so einen als lebensphilosophischen Berater engagieren? Würden Sie ihm zehn Euro geben und sagen: Kauf uns was zum Abendessen? Würden Sie ihn zehn Minuten auf Ihren Hund aufpassen lassen?

Oder: würden Sie ihm ein Bier spendieren? Nicht? Wer weiß, vielleicht sollten wir genau das tun.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint seit Dezember 1996 und ist in derzeit sechs Bänden als Buch erhältlich. Zu hören ist sie jeden ersten Freitag im Monat auf Radio München.

4 Antworten auf „Belästigungen 10/2022: Der dunkle Gipfel der Angstmacht“

  1. Angst an sich hat inzwischen auch einen religiösen Status erlangt. Man darf sie nicht hinterfragen, ihr nicht durch Fakten die Grundlage entziehen. Die allermeisten lieben ihre Angst, ist sie doch der Freibrief von persönlicher Verantwortung. Die Angst ist daher (vor allem auf individueller Ebene) auch sehr bequem; man kann sich wie der größte Vollidiot verhalten, in seiner Opferrolle einigeln und die Ungläubigen dafür verantwortlich machen, dass das Paradies für alle Zeiten unerreichbar erscheint.

    Angst ist eine Droge, von der man mit der Zeit eine immer höhere Dosis benötigt, um überhaupt noch irgendwas zu spüren. Die Corona-Religion ist das neue Fear-Porn-Opium fürs geistig umnachtete Volk.

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