(periphere Notate): Die eigene Scham (und die) der anderen

Ein alter Freund soll neulich geseufzt haben, er wünschte, es wäre alles „wieder wie früher“. Daß das nicht geht, ist ganz einfach, aber nicht leicht zu erklären. Er ist dem „Corona“-Schwindel von Anfang an aufgesessen, nicht einfach so als überraschter, panisch bereitwilliger Mitläufer, sondern richtig gläubig, hat alle wechselnden, einander teilweise widersprechenden Trends nicht nur brav mitgemacht, sondern überzeugt und aktiv, inklusive flammender Predigten, in denen er die offizielle Propaganda mit einer Hingabe nachbetete, die sicherlich manch Wankelmütigen zumindest ins Grübeln gebracht hat.

Ob Verdoppelung, „Hammer & Dance“, exponentieller Anstieg, R-Wert, „stay the fuck home“-Lockdown, sinnlos herbeigetestete „Neuinfektionen“, Isolierung, OP-Maskenzwang, FFP2-Maskenzwang, auch unter freiem Himmel, anlaßlose Pflichttests, „Inzidenzen“, Alkoholverbot, nächtliche Ausgangssperren, „Notbremse“, „Krankenhausampeln“, Schulschließungen, „No Covid“, Datensammlung, Kontaktverfolgung … alles war ihm nicht nur plausibles Mittel zur „Eindämmung“ des gefährlichsten Krankheitserregers aller Zeiten und Rettung der Menschheit vor dem Untergang, sondern regelrechtes Anliegen. Er ist kein Dummkopf, drum fielen ihm manche Paradoxien sehr wohl auf, aber die Wissenschaft irrt sich halt bisweilen, und folgen und glauben muß man ihr trotzdem bedingungslos.

Ich muß gestehen, daß ich mir manchen Spott zumindest anfangs nicht verkneifen konnte. Das war eine Art Spiel, das wir von früher kannten und lange pflegten: Er las etwas in der Zeitung, war sofort Feuer und Flamme und begann eine Überzeugungskampagne in seinem Bekanntenkreis. Ob es dabei um vegetarische Ernährung, den Krieg gegen Syrien, Kondome für Afrika, Elektroautos, die EU, eine dritte Startbahn oder die Klimarettung ging: Immer war die Sache ganz plötzlich ganz wichtig und eindeutig und mußte gegen alle Widerstände von Zauderern, Zweiflern, Besitzstandswahrern und Bedenkenträgern durch- und umgesetzt werden.

Ich hielt stets dagegen, nicht weil ich Anhänger einer ganz bestimmten These, Theorie oder Dogmatik gewesen wäre, sondern einerseits aus Spaß am Argumentieren und Diskutieren, andererseits weil mir gewohnheitsmäßig fast alles an bestimmten Stellen fadenscheinig vorkommt, vor allem wenn es gar zu trumpfprotzig in die Welt trompetet und als strahlende Wahrheit verkauft wird. Ich esse zwar weder Fleisch noch Wurst (zum Beispiel), will aber niemanden bekehren, traue Predigern generell nicht über den Weg – ob sie nun sympathisch wirken oder so abstoßend wie die neoliberale Kamarilla, die sich in den 90ern jeden Sonntag um Sabine Christiansen sammelte, um die Umverteilung des Bruttosozialprodukts auf die Konten der Reichen durchzupauken – und bin meistens der Meinung, daß ein Gedankengebäude mit Widersprüchen mindestens renoviert oder notfalls abgerissen und neu durchdacht werden sollte.

Das ging immer ganz gut, auch wenn ich fast immer auf meinen Widersprüchen so lange sitzenblieb, bis ihn eine seltsame Art von Amnesie erfaßte – meistens dann, wenn ich an seiner Mimik leichte Zweifel und schleichende Skepsis auszumachen meinte, schnalzte ein neues Thema daher, das ihn so fesselte, daß das alte nur noch eine wegwerfende Handbewegung wert war. Notfalls schloß er sich zögernd meinem (vermeintlichen) Standpunkt an und behauptete, das so ungefähr schon immer gesagt zu haben. Wenn gar nichts mehr ging, sprachen wir über Fußball oder Krieg: Da waren wir absolut einer Meinung.

Diesmal war das anders. Weil er seit einigen Jahren nicht mehr in München wohnt, unterhalten wir uns nur noch schriftlich, und da änderte sich mit „Corona“ schlagartig sein Ton. Er wechselte zwischen fanatischer Strenge und dem entfesselten Geschrei eines Weltuntergangspropheten, dem nur noch zehn Minuten bleiben, um die Menschheit vor dem Untergang zu retten. Offenbar war er sich selber nicht sicher, welche Haltung angemessen war, und löschte einige Kommentare unter meinen frühen Facebook-Posts zu dem Thema schnell wieder. „Um dir die Mühe zu ersparen“, schrieb er, wohl wissend, daß ich generell nie so etwas lösche, solange ich nicht ernsthaft befürchte, mich durch das Stehenlassen strafbar zu machen. (Es sei allerdings gestanden, daß ich in den ersten „Corona“-Wochen zwei oder drei Leute aus meiner Freundesliste löschen und ein paar besonders eifrige Brüller vorübergehend ausblenden mußte, um nicht selbst tobsüchtig zu werden.)

Irgendwann brach der Kontakt ab, wohl im Jahr 2021, während sich der „Wellenbrecherlockdown“ über endlose Monate hinzog und die Nachrichten über schlimme Folgen der mRNA-Behandlung in zunehmender Dichte an den Medien vorbei einliefen und auch im weiteren Bekanntenkreis häufiger wurden. Ehrlich gesagt ist es mir gar nicht groß aufgefallen; ich kam und komme ja zeitweise sowieso nicht dazu, auch nur den wesentlichen Teil der hereinprasselnden Mails zu beantworten.

Kürzlich nun berichtete eine Freundin von den Folgen (oder, vorsichtig gesagt, dem Nachgang) seiner drei Spritzungen: unklare Herzprobleme, Schmerzen in den Gelenken, und seit Monaten laufe ihm nachts Eiter aus dem Ohr. Außerdem liege er jetzt schon das dritte Mal in dieser Saison mit einer schweren Covid-Grippe flach, habe wegen Kreislaufbeschwerden das Joggen aufgegeben und sei wegen Depressionen in einer Therapie. Zu erwarten wäre, daß er das alles mit purem Zufall begründet, „Long Covid“ vorschiebt oder so tut, als wäre die Welt in Ordnung, und man werde halt nicht jünger.

Aber nein, meint sie, er sei vollkommen überzeugt, daß das „Impfschäden“ seien und habe sich eben deshalb aus allen Beziehungen mit „Impfskeptikern“ und „Coronaleugnern“ völlig zurückgezogen: weil er sich schäme und deswegen sauer auf „die“ sei. Die Depression habe vielleicht auch damit zu tun, das sei aber nur eine Vermutung. Seitdem spüre ich die Verpflichtung, mich bei ihm zu melden, bringe es aber nicht fertig.

Das Problem der Versöhnung ist, daß sie von beiden „Seiten“ ausgehen und dafür auch auf beiden Seiten die Bereitschaft dazu vorhanden sein muß. Indem eine „Seite“ andere als „Ausgestoßene“ empfindet, werden sie erst zu solchen, werden als solche behandelt und verhalten sich dann auch so. Irgendwann weiß man nicht mehr, was eigentlich die genauen Gründe oder Motive für den „Ausstoß“ waren. Dann ist daraus eine generelle Eigenschaft geworden, die man nicht mehr loswerden kann.

Die Scham über eigene Irrtümer verwandelt den Furor der Überzeugung in ein schwer zu unterscheidendes Gegenteil: Angst vor … ja, was eigentlich? Spott, mehr Beschämung, begütigendem, gut gemeintem, aber demütigendem „Kann jedem mal passieren“-Getue? Oder vor den Folgen der Erkenntnis der kognitiven Dissonanz, die man vor sich selbst rechtfertigen müßte und nicht kann? Der unterbewußt weiterwütende Wille, zu den „Guten“ zu gehören, verstärkt die Ratlosigkeit möglicherweise und richtet die Wut erst recht auf die „anderen“; die mündet aus dem Generalverdacht in allgemeine Ablehnung, die auch dem eigenen Irrtum und damit einem selbst gilt.

Irgendwann läßt sich dann jedes Verhalten und jede Äußerung auf die diffuse Zuordnung zu einer Gruppe oder einem Milieu von „Ausgestoßenen“ zurückführen, unbewußt. „Der kratzt sich so seltsam an der Nase.“ – „Na ja, war der nicht bei diesen ‚Querdenkern‘?“ – „Ach so, na dann.“

Der Zustand des „Ausgestoßenseins“ wird ebenfalls als aktiver „Rückzug“ oder „Ausstieg“ empfunden. Und zwar von beiden Seiten. Der „Ausgestoßene“ findet keinen Zugang mehr, weil das „Ausgestoßensein“ aus keiner Begegnung herausgedacht oder ignoriert werden kann und die Aufmerksamkeit sich automatisch auf Indizien dafür richtet. Auf der anderen Seite wird das daraus resultierende „seltsame“ Verhalten als Zeichen der Absonderung gewertet.

Irgendwann beginnt dann das Spiel mit der „Opferrolle“, die einerseits als unfreiwillig erlittenes Stigma, andererseits als selbstgewähltes Merkmal des „Andersseins“ empfunden wird. Und zwar von beiden Seiten, das ist für die weitere Dynamik der „Rückkoppelung“ entscheidend: Je mehr man als Außenseiter behandelt wird, desto mehr benimmt man sich wie ein Außenseiter. Je mehr man sich wie ein Außenseiter benimmt, desto mehr wird man als solcher wahrgenommen. Endlich fühlt man sich überall und generell unwohl, unwillkommen. Gerade der Versuch, „ganz normal“ aufzutreten, wird als „eigenartig“ empfunden. „Der tut so, als wäre nichts gewesen, der spinnt doch.“

Die vorwurfsvollen, anklagenden Blicke der Maskierten in den Supermärkten zeigen die Paradoxie der Situation: Sie sprechen von Kränkung und Angst, die auf die plötzlich (wieder) sichtbare Minderheit projiziert wird: Es geht mir schlecht, und ihr seid schuld, weil ihr mich gefährdet. Dabei sind sie doch nicht nur in der Mehrheit, sondern auch ihrer Definition zufolge so „sicher“, wie es nur geht: drei- bis viermal „geimpft“ und maskiert, womöglich noch täglich getestet. Die Unsicherheit, das Gefühl der Gefährdung scheint tatsächlich mit jedem Schritt der „Versicherung“ zuzunehmen.

Die Tiefe dessen, in das wir da hineingeraten sind oder vielmehr: uns hineintreiben haben lassen, verbietet Schuldzuweisungen. Zumindest persönlich, zumindest scheinbar. Vielleicht ist eine solche Situation aber gerade geeignet, über das Problem der Schuld Dinge ein für allemal oder wenigstens hinreichend zu klären oder „aufzuarbeiten“, für die all die sonstigen Probleme der vielen Jahre nie geeignet waren.

Wer weiß; der dringende Eindruck des Ungleichgewichts läßt mich zweifeln, ist aber vielleicht auch nur ein Symptom dessen, was überwunden werden müßte.

Um das nicht zu pathetisch enden zu lassen: Bin ich der einzige, dem sich in letzter Zeit bei einigen Videos eines bekannten Führers und bei gewissen Aussagen seiner schärferen und schärfsten Getreuen im nicht verbündeten Ausland die Erinnerung an „Comical Ali“ aufdrängt?


Eine Antwort auf „(periphere Notate): Die eigene Scham (und die) der anderen“

  1. Ich musste etwas rätslen, wer und was gemeint sein könnte mit der Ähnlichkeit, jetzt ist es aber klar:

    Natürlich war dieser Mann eine miserable Kreatur, ein Schleimling an Saddams Hof, ein stiefelleckender Hund des Terrorfürsten, möge sein Fleisch verfaulen im Napf des Höllenhundes, möge seine ekelhafte Seele in Höllenwasser sieden… (Wir haben ihm zu oft zugehört, Al Sahaf, man merkt es, was?) Aber er war sehr komisch, das einzig Komische am Krieg, und er hatte Format. „Ich sehe ihn voller Bewunderung“, sagte John Buckley, 1996 Pressesprecher des Präsidentschaftskandidaten Bob Dole, „denn wenn es zu Ende geht, kommt es auf Haltung an.“ Haltung? Stil? Nein, das war es auch nicht, er war eine becketthafte Figur, ohne Bezug zur Realität, die Wirklichkeit zum Schluss nicht mal mehr leugnend, sondern einfach neben ihr lebend oder über oder unter ihr, jedenfalls woanders.

    Es gibt in jedem von uns einen Al Sahaf, der die Wahrheit nicht wissen will: „Nein, sie hat mich nicht verlassen, sie liebt mich und nicht jenen impotenten Hund, an dessen Seite man sie gestern sah.“ Oder so: „Lächerlich, die Schmerzen in der Brust, es gibt sie nicht, oder wenn es sie gibt, handelt es sich nur eine Verspannung, sie werden vernichtet von meiner strotzenden Gesundheit, die Schmerzen.“ In den Führungsriegen abstürzender Börsenlieblinge sahen wir sahafsche Typen. An Wahlabenden begegnet man ihnen. Auch bei der Bahn, die ihr surreales Tarifsystem verteidigt, ist Sahafismus nicht unbekannt und gewiss nicht bei jenen Freunden, welche die Regierung Bush für nichts als eine Verbrecherbande halten, geschehe, was will. Im Grunde sollte Baghdad-Bob weiter machen, in einer Art Happening, er sollte einen Pavillon auf der Biennale bekommen oder der documenta oder als Pressesprecher bei Schill, weiter Behauptung um Behauptung aufstellen, die Anwesenheit von Amerikanern im Irak oder die berechtigten Forderungen der Bambule nach selbstbestimmtem Leben leugnen, egal was passiert, ganz egal. LG Josi

    https://web.archive.org/web/20071211094714/http://www.roteswinterhude.de/sahaf.htm

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