Daß das Leben heute anders ist als früher, merkt man meistens nicht, weil man nicht gemerkt hat, wann und wo es plötzlich anders geworden wäre – was es ja meistens gar nicht ist, was die Sache noch schwieriger macht. Daß etwa die Autos seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts immer größer geworden sind und ein „praktischer“ Kleinwagen heute den Möbeltransportern meiner Kindheit gleicht, fällt erst auf, wenn man zufällig einen weniger kleinen Wagen aus jener Zeit zwischen den 2021er Panzerboliden stehen sieht und denkt: Mei, wie putzig! und dann feststellt, daß es sich (zum Beispiel) um einen BMW 2500, also ein Modell der damals sogenannten „Oberklasse“ oder gar um einen 3200 S, also ein echtes „Schiff“ handelt, und denkt: Jessas, da kann man ja regelrecht noch drüberschauen!
Dann fällt einem ein, daß der ADAC ja schon vor vielen Jahren forderte, beim Abriß alter Häuser die Neubauten gleich mal drei, vier Meter nach hinten zu versetzen, weil auf die windigen Parkplätze sonst kein normales Auto mehr paßt (und wer braucht schon Hinterhöfe, außer um sie mit noch mehr Betonkisten zu verdichten?). Und ein grundsätzlich zerstreuter Mensch wie ich denkt dann: Vielleicht gibt es deswegen auch keine Spaziergänger mehr? Schließlich „macht“ es keinen „Sinn (wie man heute sagt) und bereitet auch wenig Freude (wie man früher sagte, als Sinn noch etwas anderes war), auf Bürgersteigen dahinzuflanieren, wo man links identisch monotone Betonkisten und rechts identisch monströse Blech-Plastik-Kisten und sonst überhaupt nichts mehr sieht. Abgesehen vielleicht hier und da von illuminierter Propaganda für Militärberufe und neuartige Medizin und ein bißchen Nutzbraunrot (die Mixtur aus Ahorn, Rudimentärgras, Plastikmüll und teilweise in Tütchen verpacktem Hundekot, die aus unerfindlichen Gründen und zum Unmut fluchender SUV-Piloten immer noch den einen oder anderen Bürgersteig von den geparkten Boliden trennt).
Früher nämlich ging man tatsächlich spazieren und hetzte nicht wie ein überdrehter Duracell-Android in Energy-Drink-artiger Verpackung mit Ohrstöpseln und Meßgerät am Oberarm dahin und daher, einem Ziel entgegen (zu überwindenden Leistungsgrenzen, ewiger Fitneß und infolgedessen Verwertbarkeit), das es gar nicht gibt. Man tat das sogar systematisch und organisiert: Wenn der Sonntagseintopf vertilgt war, wurden die Kinder gestriegelt, das Schuhwerk poliert, der Gehrock entstaubt, und dann schwärmte man aus, massenweise, in gemessenem Schritt, auch mal ausgelassen, womöglich mit Stock oder Schirm, entbot allfälligen Nachbarn, Bekannten und Verwandten so viele Grüße, spitze Bemerkungen und Anekdoten, daß man kaum hundert Meter pro Stunde zurücklegte (weil man ja irgendwie so gut wie jeden kannte und die weniger Bekannten ersatzweise ausrichten und betuscheln mußte).
Irgendwo gab es dann noch ein Eis oder ein oder auch ein zweites oder fünftes Bier, und wenn die Sonne hinter den Häusern golden sank, kehrte man nach Hause zurück, wärmte den Eintopf auf und hatte Gesprächsstoff genug für einen langen, gemütlichen Abend ohne Indoktrination und Einschwörung per Fake-News-Empfangsgerät.
Es gab sogar berufsmäßige Spaziergänger wie den ehemals berühmten Schriftsteller Siegfried Sommer, der sein vielbändiges, lesenswertes, heutigen Zeitgenossen jedoch leider weitenteils unverständliches Gesamtwerk zu erheblichen Teilen aus dem zusammenschrieb, was er beim Spazierengehen so sah, erlebte und erfuhr. Das taten früher sogar Zeitungsreporter (wie er im Grunde ja auch einer war), die heute in kilometerhohen Türmen in der Stadtrandwüste sitzen und sich von den Abgesandten der Immobilien- und Insgesamtmacht drillen lassen. Der leider, aber naturgemäß verstorbene Sigi steht derweil als Metallskulptur in der Fußeilerzone herum und muß zum Glück nicht mehr hören, wie das Städtetouristenkind fragt: „Mama, was macht der da?“ und die gehetzte Mutter im Weiterzerren des Kindes bellt: „Was weiß denn ich, sicher ein König oder so was!“ Unmittelbar neben der (halbauthentischen) Szene rennt eine Joggerin in eine Oma, die versuchsweise das tut, was Herr Sommer nur noch als eingefrorene Momentaufnahme tun kann, und die energische Jungdynamikerin verwundert fragt: „Wo wollen Sie denn so schnell hin?“ Die hält verblüfft inne, zieht sich einen Stöpsel aus dem Ohr, sagt: „Was?“, schüttelt den Kopf, steckt den Stöpsel wieder hinein und flieht weiter.
Wieso niemand mehr spazierengeht, läßt sich leicht beantworten: Abgesehen von den fremdenverkehrs- und zugezogenenamtlichen Zentralarealen (Englischer Garten, Isarufer, Viktualienmarkt) kann man das nirgends mehr, weil alles öde und mit Riesenautos vollgestellt ist. Und dort kann man es auch nicht mehr, weil man sich erst mal per U-Bahn hinkutschieren lassen müßte, um dort dann inmitten gedrängter Massen und Ertüchtigungsdruck wahnsinnig zu werden. Da bleibt man lieber daheim, hängt vor dem Empfangsgerät und läßt sich beibringen, was in der „Welt“ los und wie schlimm das ist.
Eigentlich schade angesichts der Kürze des Lebens, aber so ist das nun mal, nicht wahr?
Die Kolumne „Belästigungen“ erschien bis April 2020 alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN. Dann konnte das Heft aufgrund der von Bundesregierung und bayerischer Staatsregierung verfügten „Corona“-Sanktionen nicht erscheinen, weil kulturelle Veranstaltungen und Vergnügungen verboten waren. Inzwischen sind einige unter strengen Auflagen für „Geimpfte“, „Genesene“ und (vorläufig) „Getestete“ wieder erlaubt, und das Heft erscheint vorläufig monatlich. Diese Folge erschien in der Oktober-Ausgabe.
Irgendwann fiel mir in Deutschland auf: Wenn ich versuche in Ruhe zu gehen, in Dämmerung irgendwo liegend, daß, egal ob die Augen geschlossen oder offen sind, vor meinem geistigen Auge unablässig kurze Filmfetzen, Sequenzen erscheinen. Die sind meist nur einen Wimpernschlag lang, in grobkörnigem Schwarzweiß oder irgendwie leicht getönt und diese Filmfetzen überlagern sich, es können auch mehrere gleichzeitig laufen. Mit diesen Filmen habe ich selber nichts zu tun, ich habe sie weder eingeladen noch beziehen diese sich auf mich oder mein Leben. Das ist gewissermassen die Visualisierung des Geplappers und Gequatsches im Kopf, gegen das ich mich mit Atemübungen recht gut zu wehren weiß. Die Filme bekomme ich nicht weggeatmet.
Gleichzeitig habe ich ganz stark die Fähigkeit eingebüßt, mir irgendwelche geometrische Körper wie Kugel, Quader, Pyramide, Zylinder etc in einer von mir bewußt gewünschten Farbe vorzustellen. Im Ural konnte ich so eine Imagination tatsächlich über eine recht lange Zeit aufrechterhalten. Recht lange Zeit, das könnten zehn Schritte im Schnee sein, vielleicht sechs oder sieben Sekunden lang. In Deutschland hat sich das reduziert auf die Kürze dieser ungewollten Filmchen, die ich sehen muss. Ich bin nun zurück, Gottseidank, im Ural. Es hat keine drei Tage gedauert, die Filmsequenzen haben aufgehört, durch meine Sinne zu ziehen und die Imaginationsfähigkeit für oben beschriebene Körper nimmt wieder deutlich zu. Das Hirngeplapper ist sehr leise.