Belästigungen 10/2021: Deutsch? oder antideutsch? oder was auch immer oder über alles oder was?

Mit „Deutschland“ hatte ich schon immer Schwierigkeiten. Ich habe noch nie begriffen, was toll sein soll an einem Land, nein: einer Nation, die es eigentlich gar nicht gibt.

Als ich klein war, gab es die wirklich nicht. Es gab BRD und DDR (in der Springerpresse: „DDR“), und deutsch war höchstens diese Sprache, die man uns aufzwingen wollte und die nicht mal in Hannover (wo sie angeblich herkam) irgendwer fehlerfrei prononzieren konnte.

„Deutschland“ waren Bilder, die ich als Kind in Zeitungen sah: Hitler, Auschwitz und Stalingrad, vielleicht noch Bismarck, der Kaiser und Luther. Hitler fand ich noch unattraktiver als den bösen Grafen bei Edelhart und Kukuruz, auf den Bildern von Auschwitz und Stalingrad habe ich zum Glück nicht viel erkannt, Bismarck und Kaiser sahen aus wie lamettabehängte Weißwürste mit Deppenbart, Luther immerhin wie unser netter älterer Nachbar, aber der war mir lieber als irgendwas mit Kirche.

Bei der WM 1974 gab es dann plötzlich „Deutschland“, das gegen die DDR spielte, aber das war mir egal. Später hat man es mir erklärt: „Deutschland“ war gut, die DDR böse, weil da nur kommunistische, sexuell freizügige Hippies lebten, weshalb man unseren Hippies empfahl, sie sollten doch hinübergehen. (Manche Leute waren so dumm, daß sie „Geh doch rüber!“ sagten, obwohl ich schon als Drittkläßler wußte, daß man von hier aus nirgendwohin „rüber“ gehen kann, aber egal.)

Dann gab es Deutschland wirklich, wieder, und ich begriff immer noch nicht, wieso mich das freuen sollte. Um nicht falsch verstanden zu werden: Grundsätzlich habe ich nichts gegen Nationalstaaten. Zum Beispiel den französischen, der dadurch entstand, daß der Kaiser abgesetzt wurde, oder den italienischen, zu dessen Gründung die Italiener eine ziemlich coole Sprache erfanden. Der deutsche Nationalstaat entstand, indem man einen Kaiser krönte und eine ziemlich uncoole Sprache zusammenklamüserte. „Deutsch“ sollten diese „Deutschen“ sprechen, die im Norden mehr englisch als deutsch und im Süden mehr österreichisch als deutsch sprechen, die im Norden mehr Niederländer und Dänen sind als Bayern und im Süden mehr Schweizer und Slowenen als Holsteiner. Ein „Volk“ sollte es da plötzlich geben, das sich selbst nicht verstand, weil es ja nicht nur um Sprache, sondern erst recht um Mentalität und andere Wichtigkeiten ging und geht, die niemals unter einen Deckel passen können. Eine geradezu irrwitzige Unlogik, dieses Deutschland, nicht nur für Nachbarn wie Frankreich und Rußland, die von den Deutschen, sobald sie Deutsche sind, alle fünfzig oder hundert Jahre überfallen und halb ausgerottet werden.

Genauso wenig verstehe ich aber die „Antideutschen“ mit ihrem umgekehrten Nationalismus, wenn sie mir weismachen wollen, daß ich als Einwohner von Schwabing automatisch Deutscher und damit automatisch Antisemit und Rassist und an Auschwitz schuld bin. Das ist Quatsch. Ich habe mich noch nie groß zu Israel geäußert (weil ich darüber jenseits der kindlichen Kishon-Lektüre sehr wenig weiß), ich bin für Auschwitz zu spät geboren, und ich bin noch nicht mal weiß, zumindest im Sommer. Und deutsch bin ich übrigens auch nicht, bloß weil ich zwanzig Jahre lang einen deutschen Paß besessen habe. (Davor und danach hatte ich einen Personalausweis, jetzt gar nichts mehr, weil man die Dinger nicht verlängern kann und die Ausstellung eines neuen wegen „Corona“ Monate dauert.)

Ich glaube, daß der ganze dumme „Kosmopolitismus“, die Ideologie, daß im Grunde alles überall gleich (langweilig) sein sollte, daß man alles durch alles ersetzen können muß und als Mensch auf der ganzen Welt zu Hause ist, mit und in Deutschland seinen Ursprung hat. Hier, wo sich niemand verstand und keiner mit keinem groß was anfangen konnte, obwohl sich alle irgendwie respektierten, sollten plötzlich alle dasselbe sein, weil ein Kaiser oder Führer das wollte: „Ich kenne nur noch Deutsche!“ Hier, wo der Klassenkampf entdeckt und wissenschaftlich begründet worden war, wußte man plötzlich ganz genau, daß Proletariat und Bourgeoisie gar keine Gegner waren, solange sie bloß „Deutsche“ sein wollten und gemeinsam nach Rußland marschierten.

Später konnte man die „Deutschen“ unter der Flagge dieser Ideologie ganz prima jeglicher (sorry) Identität entkleiden: indem man sie einfach in diesem Deutschland herumschickte, dem sie ja alle angehörten. Heute ist es vollkommen egal, wo einer herkommt (solange es nur Deutschland ist), was er spricht (solange es nur das deutsche Rudiment ist) und was er für eine Geschichte hat (solange es nur die deutsche ist, die ja erst 1945 oder 1990 überhaupt anfängt).

Vielleicht liegt es daran, daß ich auch zu deutschen Fußballnationalmannschaften nie einen Bezug hatte. Später, als dort exotische Namen und andere Hautfarben Einzug hielten, war das fast schon eine Erleichterung: wenigstens nicht schon wieder diese Deutschen! Inzwischen, fürchte ich, sind aber auch diese Besonderheiten nur noch Streusel im deutschen Brei, und als bei der kürzlich abgehaltenen EM-Simulation auf einem Asylantencontainer eine improvisierte deutsche Fahne wehte, dachte ich: Bitte nicht! Werdet wenigstens ihr nicht auch noch deutsch, sondern bleibt, was ihr seid!

Deutsch sein heißt in letzter Konsequenz: weltweite Einheit unter einem Führer, acht Milliarden Menschen in Shorts und T-Shirt, grauen Anzügen oder Seppl-Tracht, die „Corona“-Regeln befolgen, Hamburger essen, für die Deutsche Bank schuften und im Biergarten ins Facebook glotzen. Acht Milliarden Menschen, für die es keine Klassengesellschaft, keine Ausbeutung, keine regionalen Spinnereien, dafür aber acht Millionen Oktoberfeste und alle sechs Monate einen Impftermin gibt.

Nein, da ist es mir wurst, ob das deutsch oder antideutsch oder kosmopolitisch oder sonst was ist: Ich mag es nicht. Nicht weil ich nicht hineinpasse und deswegen „anders“ bin. Sondern weil wir alle anders sind, außer im Moment der Geburt und des Todes, und weil deswegen niemand von uns da hineinpassen sollte, sondern – wenn schon – in etwas ganz anderes. Das auf keinen Fall „deutsch“ sein darf.

Die Kolumne „Belästigungen“ erschien bis April 2020 alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN. Dann konnte das Heft aufgrund der von Bundesregierung und bayerischer Staatsregierung verfügten „Corona“-Sanktionen nicht erscheinen, weil kulturelle Veranstaltungen und Vergnügungen verboten waren. Inzwischen sind einige unter strengen Auflagen wieder erlaubt, und das Heft erscheint vorläufig monatlich. Diese Folge erschien in der September-Ausgabe.

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