Wenn ich heutzutage vor einem elektronischen Gerät sitze, das mich mit Fossilien und Treibgut aus einer angeblichen Welt füttert, frage ich mich hin und wieder, was wir eigentlich früher so getan haben. Zum Beispiel im letzten Jahr der gymnasialen Unterstufe, das ich zufällig auswähle, weil es gerade ein unrundes Jubiläum feiert. Den Klimawandel, der uns heutzutage schon im Februar ein bißchen Sommer spendiert, gab es erst in Ansätzen. Aber dann, wenn es warm wurde, entwickelten wir ungeheuer einfallsreiche Strategien, um dem zu entgehen, was Pflicht war und im wesentlichen aus Schule, Hausaufgaben, Firmunterricht, Fußball- und Schwimmtraining sowie Familienbesuchen bei langweiligen Leuten bestand.
Freilich bemühten wir uns nach Kräften (und erfolgreich), auch die Pflichtveranstaltungen in einen Karneval von Gekicher, Blödsinn und real erblühenden Faulheitsphantasien zu verwandeln, aber wichtiger waren die Zeiten dazwischen. Da zogen wir hordenweise johlend durch Giesing, spielten im Wald Indianer, brachen in Baustellen und stillgelegte Ziegeleien ein, um Häuser und Städte zu bauen und als Räuber und Schandi durch Lüftungsschächte und Rohbaukeller zu kriechen, lungerten ganze Nachmittage im Schyrenbad herum, tauchten und bespritzen und jagten und kitzelten uns so lange im Großen-Becken, bis man uns wegen Störung des geregelten Schwimmablaufs hinausschmiß oder die Lippen blau waren und wir uns schlotternd in sonnenwarme Pfützen im Asphalt drücken mußten.
Sodann brachen wir auf, um die Liegewiese nach Pfandflaschen abzusuchen, die wir erbettelten oder einfach so mitnahmen und zum Kiosk trugen. Der fungierte als eine Art Wechselstube und tauschte das Leergut praktisch geldlos in Kaugummi, Brause, Eis, Schokolade, Schaumwaffeln und anderes Zeug, mit dem wir uns die Zähne ruinierten und die Gesichter verschmierten.
Dazwischen blätterten wir zum fünften oder zehnten Mal Donald-Duck-Taschenbücher durch, lachten über immer dieselben Witzchen und Mißgeschicke, was manchmal so ansteckend wirkte, daß wir uns minutenlang hysterisch krächzend im Gras kugelten, was erwachsenen Menschen ein fatalistisches Kopfschütteln und manchmal auch ein ziemlich fieses Bellen entlockte.
Obwohl es weder Lernsoftware noch „Wikipedia“, Quora, Spiele-Apps gab und in jenem Sommer dank einer Hitzewelle mit Jahrhundertdürre auch der gewöhnliche Schulunterricht so gut wie täglich durch die erlösende Durchsage „Heute ab zehn Uhr zwanzig hitzefrei!“ unterbrochen wurde, wußten wir allerdings doch einiges. Wir wußten, daß die Amerikaner Faschisten waren, die in Chile die Regierung gestürzt hatten und die Sowjetunion zu Staub und Asche bomben wollten. Wir wußten, daß in der Sowjetunion greise Betonköpfe regierten, die vor lauter Angst alles grau anstrichen. Wir wußten, daß die Deutschen den zweiten Weltkrieg angefangen und angeblich verloren und doch gewonnen hatten, weil gleich danach ein Wirtschaftswunder losging, von dem Engländer, Franzosen und die Bewohner der Sowjetunion nicht mal zu träumen wagten. Wir wußten auch, daß die Deutschen Millionen Menschen umgebracht hatten (was eine Million ist, wußten wir schon seit der vierten Klasse), daß die meisten davon Juden waren (was Juden sind, wußten wir noch nicht) und daß sie das einfach so getan hatten, weil es sein mußte, obwohl es eigentlich im nachhinein niemand so richtig gewollt hatte.
Wir wußten, daß die Industrie die Umwelt zerstörte und die Schuld den „Verbrauchern“ zuschieben wollte, die so unvernünftig waren, das Plastikzeug, das sie herstellte, zu kaufen, nur weil es kaum was anderes gab. Wir wußten, daß Erwachsene böse Sachen machten, wenn man sie ließ: Waffen, Kriege, Atomkraftwerke, weshalb man sie immer mal wieder daran hindern mußte, so was zu machen. Wir wußten von Donald Duck, daß der Kapitalismus ein Schmarrn und Geld in großen Mengen zu nichts zu gebrauchen war. Wir wußten, daß täglich tausende Menschen verhungerten, weil andere reich waren und es einfach zu viele Menschen gab, daß Autos die Luft verpesteten und wir in zehn Jahren nur noch Krill essen würden. Wir lernten von einer Alice-Cooper-Single mehr über den Wahnsinn der Erwachsenen und der Welt als von einem ganzen Schuljahr Sozialkundeunterricht (den es noch gar nicht gab). Und wir wußten noch so einiges, vom Hörensagen, aus Heften und Büchern, von denen die meisten „Schund“ waren, wie man uns beständig predigte.
Eines meiner Lieblingsbücher damals war ein wunderhübscher Roman von Fredric Brown, aus dem wir zum Beispiel wußten, daß es auf dem Mars grüne Männchen gab, die eines Tages auf die Erde kommen würden, um die Menschen zu schikanieren und bösen Schabernack mit ihnen zu treiben. Daß noch nie jemand ein solches grünes Männchen gesehen hatte, störte uns nicht weiter. Schließlich hatten wir die Geschichte von den grünen Männchen schon so oft aus verschiedenen Quellen gehört, daß sie einfach stimmen mußte. Außerdem hatte ja auch noch niemand bewiesen, daß es keine grünen Männchen gab, und selbst wenn es sie wirklich nicht gab, war uns das eigentlich egal, weil es sie immerhin geben konnte und wir, ganz ehrlich, auch wußten, daß es sie nicht gab, diese Vorstellung aber langweilig fanden.
Heute wissen wir geradezu ungeheuer viel mehr als damals, und trotzdem hat sich die Dummheit der Menschen kaum geändert. Eher ist sie noch schlimmer geworden, weil all das, was wir wissen, genau genommen nur noch Maschinen wissen, die uns hin und wieder eine Handlungsanweisung hinklatschen, die „alternativlos“ ist. Und weil es keine Kinder mehr gibt, die, wenn man sie nicht schärfstens drillt und diszipliniert, nichts als Unfug treiben, kichern, Süßigkeiten mampfen, sich mit Alice Cooper zudröhnen, viel zu lange im kalten Wasser herumwimmeln, von grünen Männchen schwadronieren und vieles wissen, was Erwachsene vergessen haben und nicht wissen wollen.
So haben die bösen Erwachsenen freie Bahn. Sie können zum Beispiel behaupten, daß es eine Krankheit gibt, mit der man andere anstecken kann, obwohl man sie selber gar nicht hat und auch nicht kriegt, und daß man deswegen Freibäder, Fußballplätze und Schulen schließen, sich Stickmasken vors Gesicht binden, Kinder einsperren und den ganzen Tag Angst haben muß. Wenn man ihnen erklärt, daß noch nie jemand so einen Fall einer „Geisteransteckung“ nachgewiesen hat, laufen sie rot an und brüllen, schließlich habe man diese Geschichte schon so oft aus verschiedenen Quellen gehört, daß sie einfach stimmen müsse! Außerdem habe ja auch noch niemand bewiesen, daß es keine solchen Fälle gebe!
Also im Grunde die gleiche Geschichte wie mit den grünen Männchen vom Mars. Allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Eine Welt, in der es grüne Männchen vom Mars geben konnte, war irgendwie lustig, was sie ansonsten nicht immer war. Eine Welt, in der es asymptomatische Ansteckungen geben könnte, ist eine Hölle aus Panik, Hysterie, Mißtrauen, Übervorsicht, Überwachung, Kontrolle, Terror, Depression und Massenwahn.
Und da wäre ich ehrlich gesagt ganz gerne wieder ein Kind, um den Erwachsenen zu erklären, daß es grüne Männchen zugegebenermaßen nicht wirklich gibt, daß mir die grünen Männchen aber viel lieber wären als das, was sie mir einreden möchten und was es sehr wahrscheinlich auch nicht wirklich gibt.
Weil wir dann wieder hordenweise durch die Stadt ziehen, Fußball, Indianer, Räuber und Schandi spielen, in Schwimmbädern herumlungern, Schund lesen, wilde, subversive Popmusik hören und alles mögliche andere tun könnten, was Kinder tun müssen, damit sie nicht krank werden, und was Erwachsene, wenn sie ehrlich sind, auch viel lieber täten als den ganzen anderen Schmarrn.
Die Kolumne „Belästigungen“ erschien bis April 2020 alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN. Seitdem kann das Heft aufgrund der von Bundesregierung und bayerischer Staatsregierung verfügten „Maßnahmen“ nicht erscheinen, weil die Veranstaltungen, die darin angekündigt werden könnten, verboten sind. Daher gibt es die „Belästigungen“ bis auf weiteres nur hier.