Wenn eine Gesellschaft ein richtig schlimmes Problem hat, ist es immer erfreulich, ein anderes Problem zu finden, das sich scheinbar leichter lösen läßt. Und supertoll ist es, wenn man den Eindruck erwecken kann, mit diesem anderen Problem lasse sich das richtig schlimme Problem nebenbei gleich mitlösen!
Zum Beispiel ist im letzten halben Jahrhundert – seit der Durchsetzung der ersten jener neoliberalen „Reformen“, die seither unregelmäßig bis dauernd wie Erdbebenwellen über den Planeten rumpeln – öfter mal festgestellt worden, daß die Welt ungerecht ist und immer ungerechter wird: Eine winzige Klasse von Superreichen besitzt fast alles, was es gibt, die Hälfte der Menschheit hingegen hat überhaupt nichts und muß ihr ganzes Leben für dreckige, sinnlose Lohnarbeit verschwenden, um wenigstens existieren zu können.
Das ist ohne Zweifel ein schlimmes Problem, das mit jedem Tag und jeder neuen „Reform“ ein Stück schlimmer wird. Es ließe sich lösen, aber dafür bräuchte es einen ungeheuren Aufwand an politischer Tätigkeit, Regierungsarbeit und alle möglichen sonstigen organisierten Bemühungen. Der einzelne Mensch kann da so gut wie gar nichts tun – das widerspricht der modernen Ideologie, der zufolge sich zum Beispiel die Umweltzerstörung keinesfalls mit amtlichen Verboten und Vorschriften verhindern läßt, sondern nur indem jeder einzelne seinen Joghurtdeckel in den richtigen Mülltrennungscontainer schmeißt und sich ein Solarmodul aufs Gartenhäusl schraubt.
Weil heute jeder überzeugt ist, daß das so ist, kann man das schlimme Problem ganz offensichtlich nicht lösen. Was tun?
Ganz einfach: ein anderes Problem suchen. Zum Beispiel könnte man feststellen, daß unter den wenigen Superreichen überdurchschnittlich viele weiße Männer sind, während Frauen und Menschen mit dunkler Hautfarbe öfter arm sind als weiße Männer. Das kann man leichter ändern. Und man kann behaupten, Frauen und Schwarze seien deswegen öfter arm, weil sie Frauen und Schwarze sind – und nicht weil der Kapitalismus grundsätzlich darauf beruht und dazu führt, daß ein großer Teil der Menschheit arm ist und immer ärmer wird.
Und schon erscheint in strahlendem Triumphlicht die Lösung: Wenn die Menschheit (Obacht, es folgt eine absolut freie Schätzung) zu 52 Prozent aus Frauen und zu 30 Prozent aus Schwarzen besteht, müssen wir, um Gerechtigkeit herbeizuführen, dafür sorgen, daß vom Milliardär bis zum Hungerleider jede einzelne Klasse, Schicht und Gruppe zu 52 Prozent aus Frauen und zu 30 Prozent aus Schwarzen besteht. Und zu 60 Prozent aus Asiaten, zu 25 Prozent aus Christen, zu 15 Prozent aus Homosexuellen, zu zehn Prozent aus Bayernfans und so weiter!
Wenn das erreicht ist, hat sich allerdings überhaupt nichts daran geändert, daß die Hälfte der Menschheit im Elend vegetiert, während ein Tausendstel so reich ist, daß diese Leute ihr Geld in einer Million Jahren nicht ausgeben könnten (zumal es automatisch immer mehr wird). Das heißt: nicht die Gerechtigkeit hat gesiegt, sondern der neoliberale Kapitalismus, der nun lauthals verkünden kann, daß nicht irgendeine Diskriminierung schuld ist, wenn jemand hungert, sondern der Hungernde selbst, der sich halt einfach mehr anstrengen (oder, um einen alten Witz zu zitieren: mehr spachteln) muß.
Wie absurd ein derartiger Ansatz (den man mit einem fiesen Grinsen „Chancengerechtigkeit“ nennt) ist, zeigt schon die Überlegung, daß, um diese Form der Diskriminierung wirklich zu verhindern, jede einzelne Klasse, Schicht und Gruppe zu 0,1 Prozent aus Superreichen bestehen müßte (also auch die Klasse der Superreichen). Und, na klar, zu 52 Prozent aus Frauen (also auch die Gender-Group der Frauen).
Das – da sind wir uns wahrscheinlich weitgehend einig – geht nicht. Deshalb brauchen wir ein neues Ersatzproblem! Zum Beispiel verdienen Kinder mit schwäbischem Akzent und hellerem Haar später mal sieben Prozent mehr als Kinder von rheinischen Faschingsprinzessinnen! Zum Beispiel kostet ein Pfund Mehl in „sozial schwachen“ Regionen in Niederbayern mehr als im Nobelviertel von Ouagadougou (dessen Name für einen durchschnittlich gebildeten Niederbayern trotz dialektnahen „ou“-Lauten 70 Prozent schwerer auszusprechen ist als Eggmühl-Langquaid – und umgekehrt!)! Zum Beispiel sind in RTL-Vorabendserien aus den 90ern überdurchschnittlich viele Geschäftsfrauen mit Sommersprossen und überdurchschnittlich wenige Männer mit Schmerbauch, Stirnglatze und gestreiftem Hemd zu sehen!
So ist das mit der Gerechtigkeit: Man muß sie nur falsch genug verstehen, dann läßt sie sich wirksam vermeiden. Und daß man das tut, dafür sorgt der Kapitalismus zuverlässig.
Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage in gekürzter Form im Stadtmagazin IN MÜNCHEN und liegt in fünf Bänden als Buch vor.
Saugeil durchdacht Herr Sailer. Auch wenn einige das jetzt als Feminismus-Kritik falsch verstehen werden wollen.
Das wäre wirklich sehr mißverstanden … 🙂