Krach und Wahn (Popmusiktexte aus vielen Jahren): NRFB „Trüffelbürste“

Sogenannte Kulturexperten rufen in letzter Zeit gerne mal eine „neue Ernsthaftigkeit“ aus und führen als Beleg das eine oder andere Produkt aus den aktuellen Programmen deutscher Großverlage an. So lächerlich und idiotisch derartige Epochenhubereien auch sind, man kann sie doch irgendwie verstehen, schließlich überbieten sich dieselben Großverlage regelrecht und –mäßig darin, den Rest ihrer wuchernden Kataloge mit eilverschrifteten Comedynummern, Lebenshilfepersiflagen und allen nur denkbaren Erscheinungsformen ranziger Ironie zuzuschäumen, deren Lachzwangfaktor so unendlich unerträglich ist, daß man sich die Haare ausreißen und ein Grundschulpflichtfach Melancholie und Welthaß einführen möchte.

In der Musik ist hierfür eine bestimmte Sorte Hamburg-berlinerischer Projekte und Künstler zuständig, die sich seit dreißig Jahren am vermeintlich/vermutlichen Projekt Postmoderne abarbeiten und dem ironischen Theater noch einen Schuß trashig-theatralischen Kunstschwurbelrahm beimengen, der sagen soll: Wir haben die Welt und die Dinge, über die wir kaspern, absolut durchschaut, können unsere Erkenntnisse jedoch nicht in klaren Worten ausdrücken, weil das alles so kompliziert ist und so. Deswegen müssen wir so unverständlich wie nur möglich labern und salbadern, und vor allem sind wir total wichtig und unverstanden und von unserer eigenen Hyperintelligenz komplett überfordert.

Das führt dann zu Bandnamen wie Angeschissen, Blumen am Arsch der Hölle, Dackelblut, Oma Hans und Kommando Sonne-Nmilch, unter denen der bald 60jährige Hamburger Jens Rachut seit bald 30 Jahren (laut Wikipedia) „sein Schaffen nicht als Teil der Unterhaltungsindustrie beurteilt und daher nach eigenen Angaben mit seinen Projekten die in der Musikbranche gängigen Vermarktungsstrategien vermeidet“.

Das ist eigentlich selbstentlarvend genug, um es so stehenzulassen und sich aus Respekt vor der eigenen Lebenszeit lieber Produkten der Unterhaltungsindustrie zuzuwenden; aber wo wir schon dabei sind, wollen wir ausnahmsweise mal hineinhauen in die offene Kerbe und zitieren, was man für gewöhnlich nicht zitiert, obwohl es doch zum Zitieren vermutlich gedacht ist: den Waschzettel, den Firmen mit Namen wie, freilich, „Staatsakt“ und „Major Label“ Produkten wie Rachuts neuem Unterhaltungsvermeidungsalbum beilegen. „Ständig“, erfahren wir da, werde „das Pferd gewechselt, das eigentlich der immer gleiche störrische Esel ist: Jens Rachut, Jahrgang 1954, Dichter und Denker, Trinker und Henker.“ Der sei, wie „Wikipedia sagt“ (und zwar ganz bestimmt von unabhängigen Experten so formuliert), „eine Schlüsselfigur der deutschen Punkszene“, und wenn die deutsche Punkszene dazumal gar nicht bemerkt hat, was ihr da ins Schloß gesteckt und herumgedreht wurde, dann deshalb, weil „er mit seinen Bands schon immer weit über die musikalischen Genre-Grenzen hinausging und Punk schon immer eher als Einstellung und nicht als Musikfach gedacht hat. Anderes [sic] gefragt: Waren die Minutemen eine Punkband? Oder The Stranglers eine Popband? Und seit wann darf man in alternativen Rockbands eigentlich Synthesizer spielen?! Dumme Fragen“, in der Tat, und aus dummer Absicht gestellt, aber, logo, „darauf gibt es auch hier keine Antworten.“

Dafür noch mehr davon, ohne gepostes Fragezeichen: „Aber es gibt frohe Kunde: Nach der selbstbetitelten Mini-LP ‚Nuclear Raped Fuck Bomb‘ aus dem Jahre 2011 liegt mit ‚Trüffelbürste‘ nun endlich das erste Album von Rachuts widerspenstiger Expertenband NRFB vor. In müden Zeiten des Hypnagogic-Pops“ (wir schlagen nach: der Fachbegriff meint „einschläfernd“) „erklingt hier ein längst überfällig gewordener, hoch-explosiver Hypnagothic-Punk: Eine rituelle Musik, gewaschen mit allen Wassern. Donner und Blitz! Im Nebel ertönt laut das Horn: Raus hier, Leute, ich glaub es hackt!“

Doch, das steht alles so da und ist so gemeint und noch nicht genug: „Sirenen singen über Fernweh, von unerträglicher Nähe, über Mitsingrefrains an Hochzeitstagen auf dem weiten Meer, in das der vollgesaute Mainstream mündet, und auf dem sich [sic] kaum noch einer wagt, eine Piratenflagge zu hissen: Kill Mainstream! Mainstream Kill! Aus dem Mut der Verzweifelung [sic] heraus sind NRFB unterwegs auf einer waghalsigen Mission. Die Musik klingt dabei wie wundersamer [sic] Bastard aus The Ex, This Heat, Ash Ra Tempel und Konono No. 1“, was sie selbstverständlich nicht tut, aber na ja: „Postpunk, Highlife und Hippieschrottvogelei in trauter Eintracht, gemeinsam auf die Welt pfeifend“, meinetwegen.

Damit fast genug; angefügt sei, daß außer Rachut beteiligt sind: Mense Reents, dessen „Historie seiner Bands“ sich „naturgemäß liest wie keine zweite“ (weil er bei den Goldenen Zitronen mitwirkt), Thomas Wenzel (dito) und eine Fernsehkrimischauspielerin, die aber nicht „Hagemeister“, sondern Hagmeister heißt. „So“, findet der in Wahrheit überhaupt nicht ironisch gemeinte Mystifikationswahn endlich seine Mündung, „lässt sich diese fulminante Bande mit dieser großartigen Platte mit Sicherheit in Rachuts Discographie einordnen, sicherlich auch in die seiner MitmusikerInnen, nur hat man damit am Ende noch kein [sic] einzige Frage nach dem warum und weshalb wesentlich beantwortet. Das Leben ist schließlich keine Plattensammlung! Spätestens wenn Rachut am Ende ‚Greif, Vogel, Greif‘ schreit, verwandeln sich die verführerischen Sirenen in blutrünstige Vögel, vor denen man sich lieber in acht nehmen sollte: Der Beelzebub ist da!“ Und damit stellen wir den Phrasenpürierstab endlich ab.

Und die Musik selbst? Die wirkt wie eine ohne großen Zeit- und Denkaufwand sozusagen im vierfachen Ironiesinn durch den Wolf gemanschte Gesamtmixtur aus allem, was der deutschen Rockmusikgeschichte an anprangernden, aufrüttelnden, wichtigtuerischen bis tatsächlich wichtigen, vor allem aber: sympathisch bis aufgesetzt dilettantischen Ansätzen und Erscheinungen zugestoßen ist, also ungefähr von Ton Steine Scherben, Electric Mud und Floh de Cologne über Andreas Dorau, Mythen in Tüten, FFF, Cpt. Kirk & und den „Punk“ der 80er bis, klar, zu den Goldenen Zitronen und ihrer ganzen (un-)gewollten Blase. Das hat „Momente“, freilich: „Beelzebub“ und „Schatten aus Gold“ z. B. könnten anspruchslos hübsche Songs sein, wenn in ihre Interpreten der Geist der, sorry, Ernsthaftigkeit von zum Beispiel Velvet Underground hineingefahren wäre und sie sich das absichtliche Kaputtmachen gespart hätten, das wohl dazu dienen soll, daß sich der Hörer nicht versehentlich wohlfühlt beim Hören. Bei „Kill Mainstream“ und „Hälfte des Gehirns“ und bei dem glücklicherweise stimmenfreien Neu!-Aufguß „Zoo im Krieg“ ist das sogar fast gelungen (und bei den „Ziegentreibern“ fast ganz), aber irgendwas stört immer, und wenn es nur eine durchgehend schiefe Gesangslinie, eine verstimmte Gitarre, ein verhautes Timing, übertrieben „expressive“ Vokalismen, fehlende Auflösungen, fehlender Witz, fehlendes Urteilsvermögen in bezug auf das Gelingen bzw. Mißlingen von Ideen oder das Nichtaufhörenkönnen im rechten Moment ist/sind.

Aber, ehrlich und vor allem: All das spielt ja wirklich keine Rolle.

geschrieben Ende April 2013 für KONKRET

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