Frisch gepreßt #442: Richard Hawley „Further“

Sowieso eignet sich nicht jede Musik zum Reisen. Andererseits gibt es Menschen, deren Musik sich so perfekt in den Film fügt, der vor einem dahinfliegenden Fenster abgekurbelt wird, daß man vermuten möchte, sie sei in Zügen entstanden, – und sogar glaubt, den Typ des jeweiligen Vehikels erraten zu können.

Richard Hawley ist so einer. Der ist übrigens sowieso so einer: Hat auf einer meiner ewigen drei bis acht Lieblingsplatten mitgespielt, oder sagen wir: sie wesentlich mit geschaffen, als Gitarrist der Longpigs. Die heißt zwar „Mobile Home“, paßt aber nicht in Züge, sondern am besten in leere, dunkle Kneipen nach vier Uhr früh, und bleibt deswegen heute mal stumm.

Hawleys neues Album trägt einen verheißungsvollen Titel, und sowieso müssen wir nach Berlin. Die Reise beginnt um sechs Uhr morgens mit der Kletterpartie aus dem Bett; strahlend blauer Himmel über Schwabing, aber Richard Hawley singt von „thunder and lightning“ („Off My Mind“), dazu krachen Trommeln und Gitarren, als wollte er das Sturmtief „Heiko“ vorwegnehmen, dessen Ausläufer auch sogleich über den Dächern im Westen zu dräuen beginnen.

„Alone“ folgt und verwandelt die miefige U-Bahn zum Hauptbahnhof in eine fröhliche Lokalbahn, die zuverlässig von Dorf zu Dorf zuckelt, aus deren Fenstern fröhliche Menschen fröhlichen Menschen zuwinken. Als fröhlicher Mensch ist Richard nicht bekannt, und da ist schon einiges an Moll und Ach dabei. Aber der gleichmäßig rollende Boogie der Rhythmusgruppe sorgt für die nötige Bewegung, auch emotional.

Umstieg in ein Segelflugzeug: „My Little Treasures“ kommt ganz ohne Motor aus, ein luftiges Schweben mit zarten Streichern, die immer wieder plötzlich verstummen, als fühlten sie sich ertappt, dann aber richtig losschwingen, als öffnete sich der Himmel unseren verschlungenen Melodiepfaden.

Wo die Leichtigkeit – die im Titelsong als Fahrt mit dem Pferdewagen weitergeht, entspannt im Heu auf dem Anhänger fläzend – herkommt, ist biographisch schwer zu ergründen. Zwar gibt es auch hier (im Solo) einen dicken Schuß Wehmut, trotzdem: Daß der Mann, dessen Gitarre einst dramatische Nachthymnen wie „On And On“, „Gangsters“ und „I Lied I Love You“ mit kochender Melancholie erfüllte und als leibhaftige Gespenster erstehen ließ und das letzte Pulp-Album mit spukiger Eleganz veredelte, – daß der plötzlich so unbeschwert sechssaitig lächelt, mag zumindest die verwundern, die seine sieben früheren Soloalben nur peripher oder mit eindeutigen Erwartungen gehört haben.

Der angenehm sommernachmittagsmüde Walzer „Emilina Says“ erinnert an eine treibende Luftmatratze auf einem stillen, kleinen See, und fast erschrickt man, wenn man nach dem letzten Akkord die Augen öffnet und sich im ICE findet, vor dessen Fenster ein unschönes Stück Ingolstadt stracks in den Tunnel gleitet. Ach so, wir waren bei der Biographie: Hawley, 1967 in einem Arbeiterviertel von Sheffield geboren und aufgewachsen, verbrachte als Kind viel Zeit auf OP-Tischen, pendelte als Teenager zwischen geschiedenen Eltern (beide Musiker), schrieb „immer schon“ Songs und hatte nie vor, groß was draus zu machen. Bis ihn Jarvis Cocker regelrecht zwang, indem er ihm, nachdem er eine Demokassette gehört hatte, übrige Pulp-Studiozeit schenkte.

„Is There A Pill?“ bleibt in drei Vierteln, aber jetzt scheppert es wieder, passend zu den Tunneln, durch die wir im Paarminutentakt müssen. Aber seltsam: die Entspannung bleibt; gefühlt schweben wir schienenlos durchs Dunkel, vielleicht im tiefen All?

Das Universum, das Richard Hawley auf seinen Alben erkundet, endet scheinbar an der Stadtgrenze von Sheffield. Als Sessionmusiker arbeitete er seit 1996 mit so weltläufigen Menschen wie Nancy Sinatra, Robbie Williams, Gwen Stefani, Texas und den Manic Street Preachers (neben vielen anderen), aber solo blieb er am liebsten daheim, siehe die Albumtitel, die niemand (ganz richtig) versteht, der Sheffield nicht kennt.

Auch „Galley Girl“ mag mantraartig „rolling rolling rolling home“ beschwören, aber musikalisch sitzen wir inzwischen drei Waggons hinter der Dampflok, und konkrete Anspielungen auf Sheffielder Eigenheiten gibt es diesmal nicht (oder kaum). Vielleicht ist „Further“ deswegen so ein wundervolles Reisealbum? Wer weiß, es mag auch die sanfte, bescheidene Weisheit sein, mit der er die Bilder vor dem Fenster schmückt: „Loneliness is not the same as being on your own“ („Not Alone“) zum Beispiel.

Oder die Wärme, Vertrautheit und Ruhe, die seine Musik ausstrahlt, jetzt „Time Is“, das mit dramatischer Mundharmonika vertont, wie kurz vor Nürnberg bleischwere Wolken der Welt draußen den letzten Hauch Gemütlichkeit austreiben. Und einem trotzdem das Gefühl gibt: Es kann nichts passieren. Liebe ist in der Welt

„Midnight Train“ erklärt sich eigentlich selbst, aber denken wir ruhig im nostalgischen Trans-Europa-Expreß eine Weile ans Altern und an früher (das Lied entstand, nachdem Hawley Freunde seines verstorbenen Vaters getroffen hatte). Und sinnieren dann bei einer erfrischenden Radltour durch feuchte Wiesen, wohin die (ganz und gar nicht) abschließenden „Doors“ wohl führen mögen. Und sitzen nach dem letzten Ton plötzlich wieder im öden ICE. Also: instant replay, random …

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage  im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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