Krach und Wahn (Popmusiktexte aus vielen Jahren): Jesus und Heroin – ein Interview mit Nick Cave (1997)

Ich hab ein paar von deinen letzten Interviews gelesen. Sieht so aus, als würdest du es nicht besonders mögen, interviewt zu werden.

Nein, mag ich nicht.

Ist das, weil du denkst, Musik sollte für sich selbst sprechen?

Well, ich fühle mich meiner Plattenfirma gegenüber verpflichtet, ein paar Interviews zu geben. Ich verdanke ihr viel. Ich bin gerne bei dieser Firma, sie erlauben mir zu tun, was immer ich will, und unterstützen mich total. Ich weiß, daß sie mich nicht rauswerfen werden, egal was ich ihnen liefere. Ein Weg, ihnen etwas zurückzuzahlen, ist, ein paar Interviews zu geben. Also tu ich’s.

Ich war beim ersten Hören überrascht, wie sanft „The Boatman’s Call“ klingt. Heute im Flugzeug habe ich deine Texte gelesen, und der Eindruck von Sanftheit war weg. Einer davon ist einer der traurigsten Songs, die ich je gehört habe.

„Where Do We Go Now But Nowhere“.

Genau. Du hast gesagt, das ganze Album sei wie ein Tagebuch …

Welche Zeile meinst du? Welche fandest du so traurig?

Eigentlich den ganzen Text. Oder besonders die Zeile: „While the bones of our child crumble like chalk …“

Ja.

Was war das für ein Tag, an dem du diesen Song geschrieben hast?

Ich war in einer Drogenklinik, als ich das geschrieben habe. Und ich … nein, es hat eine lange Zeit gedauert, das zu schreiben. Über viele Monate. Für mich klingt das nach einem regnerischen Wintertag, und jemand geht weg und du willst, daß sie dableibt … Der Song handelt vom Zerfall der Beziehung mit meiner … Frau, der Mutter meines Sohnes. Strophe für Strophe … die erste Strophe beschreibt, wie es war, als wir uns zum ersten Mal begegneten. Die zweite Strophe erzählt davon, wie es jetzt ist. Die nächste geht wieder zurück zu unserer ersten Begegnung, die nächste ist wieder jetzt. Der Song hält die beiden Situationen einander als Spiegel vor. Wie wunderbar es damals war, wie schrecklich es jetzt ist. Das ist alles.

Hast du nicht Angst davor, mit Songs auf die Bühne zu gehen, die so intim und persönlich sind?

Ach, ich weiß nicht, ob wir den Song spielen werden.

Das letzte Mal, als ich euch gesehen habe, 1993, hast du auf der Bühne wie der Kapitän auf einem sinkenden Schiff gewirkt, wie ein Prediger, sehr rauh. Dieses Album so umzusetzen, scheint mir unmöglich.

Wir haben das in der Band diskutiert. Wir werden Konzerte geben, die sich nach diesem Album richten, die dazu passen. Keine lauten Sachen und dann diese Songs irgendwie reinbauen. Nein, wir werden alles sehr intim und klein halten, akustisch. Wir können zum Beispiel Akustikversionen von „The Mercy Seat“ spielen, das klingt faszinierend auf wenigen, akustischen Instrumenten. Es gibt eine ganze Reihe Songs, die wir auf diese Art spielen können.

Das Album erinnert mich an frühe Sachen von Leonard Cohen. Der große Unterschied ist …

… daß sie besser sind …

Nein, daß es dem Erzähler in deinen Songs so schwer fällt, loszulassen, zu akzeptieren, daß etwas tot und vergangen ist, und weiterzuleben. Die Leichtigkeit Cohens fehlt. Ist dieses Gefühl etwas, was sich durch deine ganze Arbeit zieht? Darunter zu leiden, daß du nicht loslassen kannst, an der Erinnerung leidest?

Ja, eine Sehnsucht. Ich denke, es gibt eine bestimmte Atmosphäre, die im meisten, was ich mache, lebt. Eine Sehnsucht nach etwas, was vergangen ist, oder einfach eine undefinierbare Sehnsucht.

Kommt das Gefühl, etwas zu vermissen, was nie passiert ist, aus deiner Jugend?

Das kann sein. Viele Faktoren spielen da rein. Ich bin von vielen Dingen abgeschnitten, durch die Art, wie ich mein Leben lebe. Ich habe kein Gefühl der Zugehörigkeit. Jetzt vielleicht etwas mehr, mein Sohn gibt mir dieses Gefühl. Aber ich hatte immer einen Hang zum Geworfensein, zur Entfremdung. Und in meinem Leben gibt es eine Sehnsucht danach, zu etwas zu gehören. Das, glaube ich, hat sehr früh angefangen. Ich lebte in einem kleinen Ort und wurde mit elf weggeschickt ins Internat in der Stadt. Ich hatte viele Probleme mit der Schule im Dorf, deshalb schickten mich meine Eltern da hin, um mich … irgendwie hinzukriegen. Und ich verließ Australien, als ich neunzehn war, meine Familie, und so weiter. Das Gefühl der Trennung, der Entfremdung, war immer da. Die Sehnsucht.

Kommt ein Teil davon von der Spannung zwischen dem Wunsch, von allem zu verschwinden, und dem Wunsch, von allen Leuten gesehen und anerkannt zu werden? Spürst du diese Spannung?

Ja, die spüre ich. Meine kreative Arbeit und die Bekanntheit, die daher kommt, gibt mir einen gewissen Genuß. Das Gefühl, etwas zu erreichen. Etwas, was mein Vater sein ganzes Leben lang nie so richtig geschafft hat. Ich habe mich immer schon mit meinem Vater verglichen.

Was hat dein Vater getan?

Er war Lehrer für englische Literatur und wurde Leiter der Erwachsenenbildung in Victoria. Am Ende hatte er also eine mächtige Stellung. Er war auch Theaterregisseur. Ich meine … das, was ich mache, gibt mir jedenfalls was. Aber auf der anderen Seite ist da der Wunsch, zu verschwinden. Ich bin müde und ausgelaugt von Situationen der Konfrontation, wie Interviews, Konzerte, Plattenaufnahmen. Irgendwie sind immer Leute da, die einen beobachten und sehen, wie du dich fühlst, wie dein Zustand ist, dein Leben, ob du noch fähig bist, etwas zu schreiben. Wenn ich mir mich selbst als alten Menschen vorstelle, denke ich an nichts. Ausgestiegen zu sein, irgendwo in Ruhe allein zu sein und nicht mehr in die kreative Welt verwickelt.

Kommt daher dein Hang zu, sagen wir mal … beruhigenden Drogen?

(Er lacht) Ja.

Ist das ein Weg, solchen Dingen gewachsen zu sein?

Ja, ganz sicher. Sie sind einfach extrem tröstend. Wie eine warme, mütterliche Umarmung.

Mir kamen sie immer vor wie ein Mittel, die Welt zu verlangsamen, wenn sie sich zu sehr beschleunigt und einem außer Geld keinen sinnvollen Grund dafür anbieten kann.

Ja. Ich meine, wenn ich Drogen nehme, dann ganz bestimmt nicht aus sozialen Gründen. Damit ich ausgehen kann, auf Parties. Ich nehme sie auch nicht aus kreativen Gründen, weil ich dann vielleicht besser schreiben kann. Das Gegenteil ist tatsächlich der Fall. Ich nehme Drogen, weil sie mich mit bedingungslosem Wohlgefühl versorgen.

Suchst du danach auch in religiösen Dingen?

Ich weiß, daß es so was in der Religion gibt, ich habe das gespürt. Manchmal wird es als Zustand der Gnade bezeichnet. Und ich denke, der Weg der Religion ist sehr stark von Verzweiflung angetrieben. Außer natürlich, du bist diese Sorte von wiedergeborenem Christen. Aber so war es für mich nie. Ich fand mich selbst plötzlich immer stärker von Religion angezogen.

Wie passierte das?

Es ist einfach passiert, im letzten Jahr. Es muß mehr meine Beschäftigung mit der Bibel sein als akademisches Interesse. Ich habe dieses Buch regelmäßig gelesen in den letzten zwanzig Jahren, immer häufiger. Jetzt mehr als je zuvor. Ich dachte immer, das Leben Christi und was er zu sagen hatte, interessiere mich eben. Aber mir ist klargeworden, daß das mehr als Interesse ist. Es ist ein Glaube.

Die Geschichten hinter den Geschichten, die man unbewußt mitkriegt, ziehen einen immer weiter rein.

Ja, genau.

Ich dachte am Anfang deiner Solo-Karriere, als jeder Kreuze trug und aussah wie ein Voodoo-Priester, das sei mehr eine Pose.

Well, weißt du … ich habe mein Interesse für Christus und die Bibel nie für modisch gehalten. Zur Zeit ist es das bestimmt nicht. Sogar auf einem intellektuellen Level ist es so, je mehr du dich mit Gott beschäftigst, desto mehr zieht Gott in dich rein.

Manche Zeilen deiner neuen Texte erinnern mich sehr an … sagen wir, was ich als Bild mit dem Begriff … hm, New Orleans assoziiere. Diese Sehnsucht nach der Zugehörigkeit zu einer geheimnisvollen, verschworenen Gemeinschaft, einer sehr ernsten, spirituellen Gemeinde. Suchst du danach?

Mein Interesse an Religion ist hauptsächlich ein Interesse an Jesus, was er zu sagen hatte. Das ist von der Kirche mißinterpretiert und politisiert worden. Er wurde dazu benutzt, Gut von Böse zu trennen, aber er selbst machte diesen Unterschied nicht. Seine Mission hatte mit Sünde nichts zu tun, aber das wurde der Hauptgesichtspunkt der Kirche. Je mehr ich mich von dem Ballast Kirche befreie und auf das konzentriere, wofür Christus stand – eine eher gnostische Interpretation der Bibel, in der der Mensch selbst für seine spirituelle Existenz verantwortlich ist -, desto mehr sehne ich mich nach einer organisierten Religion dieser Art, der ich angehören könnte. Was ich an der Kirche sehr mag, trotz all den Schrecken, die sie angerichtet hat, ist, daß sie Christus auf eine Art am Leben erhalten haben, durch die Körperlichkeit von Kirchen. Ich mag die Ordnung, das Ritual, das sich da abspielt. Aber ich wünschte, es gäbe eine Kirche, die meine Einstellung zu Christus teilt. Leider gibt es die nicht. Weißt du, das ist wirklich ein Problem. Christus war gegen religiöse Institutionen und ihre Gesetze. Gleichzeitig hätte ich aber gerne eine organisierte Gemeinschaft von Menschen, die sein Leben richtig betrachten, unpolitisch, für sich. Leider gibt es das nicht, eine Kirche, die … was auch immer.

Die Unmöglichkeit, das Ideal der Liebe in tägliches Leben zu verwandeln, spielt auch eine große Rolle. Meinst du nicht, daß es manchmal dazu führt, daß die Dinge zerfallen, wenn man sie zu ernst, zu schwer nimmt? Daß sie dann nicht ins normale Leben passen?

Wenn man zuviel erwartet?

Ja. Ich habe mich zum Beispiel schon als Kind gefragt, was eigentlich in Hollywood-Filmen nach dem Happy End passiert.

Gute Frage, ja. Zu was zerfällt es? Ich denke, die einzige Möglichkeit für ein Happy End in einer Beziehung ist, daß die Leute den Aspekt Liebe vergessen. Wenn sie entscheiden, für immer zusammenzubleiben, was man in einer Ehe annimmt, muß die Ehe das wichtigste werden, nicht der Einzelne. Statt zu versuchen, alles so zu erhalten, wie es am Anfang war, sollte man die Beziehung bewahren als etwas, das mehr ist als du selbst. Nur so kann es funktionieren. Ich glaube nicht, daß Verliebtsein etwas ist, was hält. Zu Beginn ist das was Magisches, aber zum Überleben muß eine Beziehung mehr werden als individuelle Faszination.

Das ist das Schwierigste, was man tun kann, eine Beziehung von der Faszination für den anderen in ein Ding zu verwandeln, das aus zwei Menschen besteht, die auch Seiten haben, die nicht so faszinierend sind.

Ja. Ich meine, ich habe die Tendenz, Sprünge in einer Beziehung sehr früh zu bemerken und darauf zu achten. Ich kann kleine Sachen erkennen und weiß, daß sie größer und irgendwann unerträglich werden. Ich sehe das sehr schnell. Und ich weiß, daß das der falsche Weg ist.

Damit ruft man die Dinge erst hervor. Man denkt, dies und das an ihr wird mir in einem oder zwei Jahren unerträglich auf die Nerven gehen. Und dadurch entsteht der Riß erst. Man konzentriert sich darauf.

Genau. Aber ich weiß, daß es einen Punkt gibt, wo die Hingabe bei beiden so groß ist, daß diese Dinge am Ende nicht zählen. (Lange Pause) Um was es auf der Platte wirklich geht, ist diese vergängliche Natur der Liebe. Ich hab angefangen mit der Platte, da gab es ein paar Songs über die Beziehung zu meiner Frau, wie die zerfiel. Dann traf ich jemand anderen und verliebte mich. Die nächsten vier Monate war ich in diesem Zustand, dann ging auch diese Beziehung kaputt. Dann mußte ich die Platte machen. Die zweite Hälfte von „The Boatsman’s Call“ handelt von dieser Beziehung. Da gibt es Songs, die einfach nur eine bestimmte Person feiern. Liebeslieder, irgendwie unkompliziert. Einfach beschreibend. Damals war es mir genug, einfach diesen Song zu schreiben, der diese wunderbare Person beschreibt. Wenn die Songs dann weitergehen, kommen die ersten Schwierigkeiten, und die Beziehung beginnt zu bröckeln. Und ich schreibe verzweifelte Songs. Dann ist die Beziehung zu Ende. Als ich „Far From Me“ aufnahm, einen wirklich guten Song, ist das alles passiert. Du weißt schon, am Telefon zu erfahren, daß alles aus und vorbei ist und so was, und am nächsten Tag bin ich im Studio und nehme den Song auf. Das machte die ganze Sache schwierig, aber so ist das nun mal passiert. Als ich „Black Hair“ gesungen habe, habe ich mich wirklich gut gefühlt, verliebt und zufrieden. Als ich „Far From Me“ gesungen habe, nicht mehr. Ich weiß, es ist vorbei und all das, aber was mir bleibt, ist diese Sammlung von Songs, die so eine Echtheit haben. Das war auf eine Art auch sehr aufregend, so eine Platte zu machen.

Ist es nicht schwer, sich vorzustellen, daß nun die ganze Welt diese Songs hört?

Ja, darüber hab ich nachgedacht. Es waren Songs dabei, die gar keine Songs waren, sondern Gedichte für dieses Mädchen. Sie waren nicht dafür gedacht, gehört zu werden, sondern als persönliche Geschenke. Aber als alles vorbei war, habe ich Musik dazu geschrieben, sie aufgenommen, und jetzt existieren sie. Jetzt existiert auch diese Zeit, als Musik. Darauf bin ich stolz. Nicht nur ein zerknülltes Blatt Papier in der Mülltonne einer Frau, sondern ein Song.

Was ist das für ein Gefühl, die Platte jetzt zu hören?

Es ist sehr traurig. „Far From Me“ ist sehr … ich meine, es ist lächerlich, so was zu sagen, aber wenn ich dazusage, daß meine Musik mich normalerweise nicht bewegt … Meine Musik hat auf mich nicht die Wirkung, die sie offenbar auf andere hat. Wenn ich meine Songs höre, sitze ich nicht da und bin traurig oder irgendwas. Ich weiß nicht, ich schreibe diese Songs, bringe sie raus, und Leute sagen, daß sie sie wirklich mögen, daß sie bei einem geweint haben oder was auch immer, und ich bin überrascht. Aber diesmal gibt es einige Songs, die mich emotional sehr berühren, und das ist neu für mich. Ich denke, mit dieser Platte bin ich wo angekommen, wo ich sehr lange hinwollte.

Hat das auch damit zu tun, daß du den Geschichtenerzähler in dir losgeworden bist, der immer obskure Gestalten erfindet, weil er von sich selbst nicht erzählen kann?

Ja, das ist mit dieser Platte passiert. Einige Songs früher waren vielleicht so ähnlich, das waren immer meine Lieblingssongs. Aber dieses Album höre ich mir tatsächlich selber an. Einige Sachen haben diese Melancholie, die ich sehr mag.

Kennst du Baudelaires Geschichte von den drei Schwestern der Melancholie?

Nein.

Ich krieg’s nicht ganz zusammen, aber eine der Schwestern war jedenfalls für die Art wohliger Melancholie zuständig, die man bei Erinnerungen manchmal spürt, diesen Anflug genießerischer, kontemplativer Traurigkeit. Die zweite tritt auf, wenn man wirklich trauert, weil jemand gestorben oder weggegangen ist. Und die dritte Schwester ist die namenlose, ewige Bedrückung, die die ganze Welt zu einem unerträglichen Schrecken werden läßt. Baudelaire nennt die Geschichte „Levana“ nach der Göttin der Erziehung, weil er meint, daß Melancholie jeden Menschen auf eine der drei Weisen erzieht.

Ja, es sind vielleicht mehr als drei Formen, aber definitiv wird man dadurch geformt. Oder es gibt nur eine dieser Schwestern, und es hängt davon ab, wie nahe du bei ihr wohnst.

Geschrieben im Februar 1997 fürs WOM-Journal. Das Interview fand an einem ziemlich ungemütlichen WIntertag in einem düsteren Zimmer über einem Cafe in der Portobello Road statt. Als die Geschichte erschienen war, bekam ich eine ganze Reihe von Leserbriefen, in denen mir vorgeworfen wurde, Drogenpropaganda betrieben zu haben. Ich hoffe, ich habe das nicht.

(„Krach und Wahn“ erscheint 2020 als Buch.)

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