Belästigungen 9/2019: Weniger mehr ist nicht weniger, sondern mehr! (Fridays for Apocalypse)

„Die Apokalypse“, sagt M mit verträumtem Blick auf die Bäume im Westen, hinter denen die glühende Aprilsonne langsam sinkt, als wollte sie den Boden, den sie seit Tagen, Wochen sengt und brennt, mitleidig küssen, – „die Apokalypse ist eine fiese Sache. Weil die Menschen völlig falsche Vorstellungen davon haben.“

Das anschwellende Gezwitscher und Geplärr der Rotkehlchen, Amseln, Stare, Gänse, Tauben, Krähen erfüllt den Himmel und die Luft, als hätte das langsame Verglühen der alles durchflutenden Sonnenhitze einen gewaltigen leeren Raum hinterlassen. Eine Biene zwängt sich in eine dürre Apfelblüte, ihre Kolleginnen tupfen, schon müde, am Löwenzahn herum.

„Sie meinen, da kommt irgendwann ein Trompetenstoß, dann trumpft ein hoheitlicher Riesenengel heran und verkündet das Ende. Alles bricht zusammen, stürzt in ein Flammenmeer oder so, rumms und over. Schau dir die Gesichter an, wenn sie wie Ameisen durch ihre Labyrinthe aus Beton, Glas, Lärm und Staub irren, ständig die Augen auf das Display gerichtet, als warteten sie auf die Nachricht: Jetzt! ist! es! so! weit! Die kommt aber nicht, nur der übliche Wirrwarr aus kleinen Katastrophen, hundert Tote da, tausend dort, fünfzehn hier, irgendwas stürzt ein oder brennt aus, steigt an oder sinkt oder fällt, ein Börsenkurs, eine Linie, ein Wert, was weiß ich. Und wieder mal haben sie einen Tag überstanden, an dem alles schlimmer geworden, aber immerhin noch nicht die letzte Grenze erreicht ist. Der Engel wartet, und solange er nicht trompetet, treiben sie ihr übles Treiben weiter.“

Puh, mache ich. Das Thermometer zeigt 25 Grad. Heute nachmittag waren es 29. Es ist April. Letztes Jahr vermerkten wir mit etwas gruseligem Staunen, daß es im späten April 27 Grad heiß war. Ein Mastjahr, sagte man uns, das zweite hintereinander, was außergewöhnlich sei. Die Bäume und Sträucher puderten die Landschaft, dann hagelte es Früchte, Nüsse, Eicheln, alle möglichen Samen in solchen Massen, daß es unter den Füßen trocken knirschte beim Gehen.

Jetzt geht das gleiche wieder los: überall Blüten, Blüten, Blüten, das verdörrte Grün bedeckt von einer messerklingendicken Schicht aus gelbgrauem Staub. Die Erde zwischen den vereinzelten Inseln bleicher Grashalme gebacken und gesprungen wie ein mißratenes Gefäß aus lehmigem Ton. „Vielleicht ahnen die Pflanzen, was kommt“, sagt M. „Vielleicht wissen sie, daß das Ende naht, und hauen raus, was geht, damit eventuell doch irgendwas weitergeht, hinterher.“

Der Wind läßt ein Blatt Papier fliegen: eine vergilbte Zeitungsseite, die eine brennende Kirche zeigt und warnt, der Brexit werde das Wachstum gefährden. Das Blatt bleibt irgendwo liegen, zwischen gebrochenen Zweigen, Stroh und bunten Fetzen von Plastikmüll. Vielleicht liest es irgendwann jemand und fragt sich, was das war und sollte.

„Wann hast du das letzte Mal die Frösche gehört?“ fragt M; ich überlege: 2017? oder 2016? Seitdem schweigt der Teich, in dem es bis dahin wimmelte von Kaulquappen und in dem im frühesten Frühjahr die Leiche einer Kröte trieb, freigegeben vom schmelzenden Eis wie ein Mahnmal nicht der Vergänglichkeit, sondern des Vergangenseins. Zuletzt ist uns da ein Teichmolch begegnet, vor ein paar Wochen, der gedunsene Bauch bedeckt mit gierig wimmelnden Egeln, die ich ihm einzeln abzupfte. Vielleicht lebt er noch.

Andere haben andere Probleme: Denen steigt das Meer bis an die Türschwelle und darüber. Stürme und Fluten reißen Dächer davon, schwemmen Straßen, Wege, Felder, bald Städte weg. Es brennt, und es gibt kein Wasser. Seen vertrocknen, Flüsse versiegen, Städte zerbröseln. Der Horizont verheißt mehr, immer mehr davon, aber keinen hoheitlichen Engel.

Der Mittlere Ring röhrt, unablässig. Am Straßenrand hackt eine Krähe wütend in den zermanschten Innereien einer totgefahrenen Taube herum. „Die Menschen“, sagt M, „warten auf Zeichen, deutliche Zeichen. Ein Zeichen, das endgültige. Es würde sie erleichtern, wenn plötzlich alles vorbei wäre. Möglicherweise würden sie jubelnd aus den Häusern, den toten Fabriken strömen, befreit vom alles beherrschenden Zwang, immer weiterzumachen.“

Das, sage ich, finde ich so seltsam an diesen Schülern, die jetzt überall streiken, damit ihre Eltern das Klima schützen und sie den Unfug, der die Menschheit und ihren Lebensraum in den Ruin getrieben hat, weiterhin treiben können.

Ein verfrühter, verirrter Eisheiliger sprüht ein bißchen Wasser zwischen die Tage, und schon seufzt man: Was wollt ihr denn, es regnet doch! Alles im grünen Bereich, wird schon wieder! Laßt uns einen neuen Flughafen bauen, neue Bahnhöfe, Fernstraßen, Tankstellen!

„Es wird langsam gehen“, sagt M. „Der Treibstoff ist nicht plötzlich weg, aber bald wird er zu teuer. Die Reste müssen dann im Boden bleiben, weil es mehr kostet, sie rauszuholen, als man mit ihrem Verkauf und Verbrauch gewinnen könnte. Dann stellt man fest, daß der Traum, jedes einzelne Benzinauto durch eineinhalb und dann zwei und später fünf und irgendwann hundert Stromautos zu ersetzen, blödsinniger Wahnsinn war. Noch während die Wahnsinnigen planen, Energie aus der Sonne und Schwarzen Löchern zu zapfen, geht plötzlich ihr Bildschirm aus, weil die Solarzelle kaputt ist und ohne Erdöl nicht mehr repariert werden kann. Dann wird man vielleicht endlich und zu spät begreifen, daß eine langsamere Steigerung kein Rückgang ist. Daß weniger mehr nicht weniger ist, sondern mehr.“

Wer glaubt, er brauche nur etwas weniger schnell schneller zu werden, dann bleibe er schon irgendwann stehen, ist doch verrückt, sage ich. „Das glauben alle“, sagt M. „Das ist das eigentlich Dumme an den streikenden Schülern. Daß sie sich von den Anstalten, in denen ihnen das heilige Credo von Wachstum und Nachhaltigkeit gepredigt und eingebleut wird, fernhalten, ist vernünftig. Nicht aber daß sie dauernd von Zukunft faseln. Die sollten lieber an jetzt denken, dann fiele ihnen auch auf, daß das ganze Milliardengerödel mit dem Klimaschutz absolut sinnlose Zeitverschwendung ist und sofort aufhören muß.“

Dann geht der Untergang aber noch schneller, meine ich. „Na und?“ sagt M. „Ob das dunkle Zeitalter von Fortschritt, Technik und Vernichtung im Jahr 2090 oder 2150 endet, ist heute ebenso egal wie in tausend Jahren. Wichtig ist für die Schüler nur, was sie jetzt tun. Sie sollten essen, trinken, schlafen, feiern, faulenzen, zum Baden gehen. Sie sollten lernen, ohne Billigflüge, Internet und Handy auszukommen, die es in 30 Jahren nicht mehr geben wird. Und Bücher lesen. Zum Beispiel alte Science-Fiction-Bücher, in denen die Zukunft vorkommt. Besser gesagt: tausend Zukunften, die sich lustigerweise sehr ähneln und von denen keine jemals Wirklichkeit werden wird. Erst wenn sie einsehen, daß die sogenannte Zukunft strukturell genau dasselbe ist wie die Gegenwart, daß sie übermorgen genau das gleiche tun dürfen wie heute, werden sie aufwachen und merken, daß sie leben, und nichts mehr tun wollen, was scheiße ist, nur weil es angeblich irgendwann irgendwas besser machen wird. Sie werden weniger sein und noch weniger werden und einfach leben. Die Zukunft ist seit tausend Jahren dieselbe: Eines Tages explodiert die Sonne, die Erde verbrennt, das Universum kollabiert oder erlischt einfach. Wozu sich darüber Gedanken machen?“

Neuerdings, sage ich, gibt es die Theorie, man könne mit Hilfe der Quantenphysik eine gewisse Menge Information über den nächsten Urknall hinwegretten, dann in dem neuen Universum wieder von vorne anfangen und einfach so weitermachen wie jetzt.

M schweigt und schaut verträumt an die Stelle, wo ein letzter Rest der Sonnenglut versinkt. Dann summt sie ein hübsches, altes Lied vom Sommer, in dem man am besten überhaupt nichts tut, auch nicht Reden. Es ist ja alles gesagt, wieder mal.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN und liegt in fünf Bänden als Buch vor.

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