Frisch gepreßt #437: Adriano Celentano „Il Ribelle“/„Il Molleggiato“/„Mr. Celentano“

Anni sitzt am Küchentisch, schaut durch den Dunst über ihrer Kaffeetasse (koffeinfrei) in die ersten Frühlingsstrahlen, die die Luft in Seide verwandeln, und wieder fällt ihr auf, wie jedes Jahr, daß Sonnenlicht nicht gelb ist wie auf Kinderbildern, sondern weiß oder eigentlich blau, azurblau wie der Himmel über der Adria, morgens, wenn das Meer wiederum nicht blau ist, sondern schimmert wie das Innere einer Muschelschale. Daran denkt sie: An den ersten Blick aufs Meer nach der Kurve der Autostrada, nach stundenlanger Fahrt durch die Nacht mit dem VW Käfer mit ihrem Hans am Lenkrad, dem die widerspenstige Haarsträhne, die er in seiner Müdigkeit nicht mehr bändigen mochte, vor die Augen fiel. Dann sah er fast italienisch aus, damals, als Italien das eine Tagesreise entfernte Traumland war, das sie nie zuvor gesehen hatte und nun zum ersten Mal sah.

Und in ihrer Erinnerung klingt die Musik, die das Café erfüllte, vor dem sie mit ihrem ersten caffé saß, in dieser wunderlich winzigen Puppentasse, und die Menschen betrachtete, die herumliefen und -standen und plauderten und lachten und aussahen, als wäre das Leben ein einziger Urlaub oder ein Traum, aus dem sie nie wieder erwachen wollte und vielleicht nie mehr erwacht ist.

Der Sänger sang „Blueberry Hill“, „Jailhouse Rock“, „Rip It Up“ und andere Schlager, die sie ja kannte, aber nicht so: irgendwie putzig, ein bißchen unbeholfen und dabei oder deshalb auf eine Weise charmant, die ihr neu war: Wir sind alle lächerlich, schien er sagen zu wollen, weil wir Menschen sind, und deshalb sollten wir lachen, über uns, die Welt, das Leben, diese seltsame Komödie. Anni fand das nicht lächerlich, aber lachen musste sie doch, als sie ihn dann sah, diesen Sänger, wie er sich bewegte, „molleggiato“ sagte man dazu, wie er grinste und sich freute und wie sie sich freute, weil ein Schauer sie durchlief, als würde sie plötzlich lebendig, als wäre sie mit einem Mal Teil dieser Welt, in der nichts grau, mühsam und gezwungen war wie daheim.

Daß der Sänger cool war, daß er geradezu die Verkörperung dieses Wortes war, spürte sie und wußte es doch nicht, weil sie das Wort nicht kannte, das später all das meinte, was sie da hörte, sah und spürte: lässig, nonchalant, abgeklärt, ungezwungen, ungeniert, gelassen und aber noch viel mehr, wofür es heute noch kein Wort gibt. Da fing Anni zu leben an, und Hans hat das nie begriffen, nur gelächelt oder belächelt, ein bißchen eifersüchtig vielleicht.

Das war 1960, Anni war 21 und, so schien es ihr, neu in der Welt, die auch neu war und dann langsam älter wurde wie sie, erstarrte und zugleich zu rasen begann und sie mit Sehnsucht erfüllte, unmerklich erst, später dringend und ganz. Da wünschte sie sich zurück in dieses Café, in den alten Käfer, an den Strand, den es nicht mehr gibt, wie es den Hans nicht mehr gibt und alles.

Aber die Musik, die sie nie mehr gehört hat seitdem, höchstens als Anklang, als verzerrte Fetzen aus den Radios der Gastarbeiter, die sonntags auf der Straße um ihr Auto standen, das kein Käfer war, sondern ein Fiat, fast ein Rennwagen, aber wunderlich winzig und putzig, an dem geschraubt wurde und über das man offenbar den ganzen lieben langen Tag reden konnte … die Musik ist plötzlich wieder da, und der Sänger auch, der, inzwischen 81 und Nationalheiliger eines ganz anderen Italien, immer noch so grinst wie damals und später in den vielen Filmen, und immer noch und wieder wird sie plötzlich lebendig, Teil einer Welt, die nicht rasend erstarrt ist, in der nichts grau, mühsam und gezwungen ist, einer Welt, die es vielleicht nicht mehr gibt.

Aber das Leben, denkt Anni, ist ein Fluß, und wenn der Fluß sich breit und träge ins weite Meer hinein ergibt, dann ist zugleich immer noch die Quelle da, die glitzernd aus den Felsen sprudelt – es ist alles eins und ewig, und die Musik trägt sie, wohin sie will, gelassen, ungeniert und „molleggiato“. (Und das für die Statistik: 50 Lieder, fast alle Singles und B-Seiten, die Adriano Celentano von 1958 bis 1962 veröffentlichte, von „Rip It Up“ bis „Pasticcio in Paradiso“, lange vor „Azzurro“, „Yuppi Du“ und diesem wundervollen Film, in dem er neben Anthony Quinn steht und eine brennende Zigarette aus der Brusttasche seines Sakkos zieht und mit dieser winzigen, lässigen und lächerlichen Geste den Begriff „cool“ ins Italienische übersetzte und für alle Zeiten definierte.)

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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