Belästigungen 23/2011: Der Mensch als Teil des Menschen – verstreute Gedanken zur Einverleibung

Man könne so gut wie gar nichts mehr essen, weil man sonst sterbe, hat mir vor einiger Zeit, als mal wieder ein durch den Lebensmittelmassenhandel verbreiteter Virus Menschen hinraffte, jemand gesagt. Rein statistisch betrachtet leuchtet das ein: Tatsächlich sind so gut wie alle Menschen, die in den letzten, sagen wir: fünf Millionen Jahren etwas gegessen haben, in erdgeschichtlichen Maßstäben ziemlich bald darauf gestorben, und zwar völlig unabhängig davon, womit der jeweilige Todgeweihte seinen Verdauungstrakt füllte. Das, möchte man meinen, ist eben die gemeine Hinterhältigkeit des Lebens und der Natur: Man müht sich redlich, nichts falsch zu machen, und eines Tages ist es doch vorbei.

Gründliche Pessimisten könnten unter solchen Umständen der Ansicht zuneigen, es sei am vernünftigsten, sich den Unsinn, da letztlich ja doch vergeblich, von Anfang an zu sparen und gleich gar nichts zu essen. Aber da tritt der natürliche Überlebenswille auf den Plan: Freiwillig zu verhungern, um solcherart die Selbstentfaltung von Huhn, Gurke und Maiskorn nicht zu stören, ist zwar leichter als die Vorgehensweise des griechischen Philosophen Diogenes von Sinope, der, um nicht noch älter werden zu müssen, neunzigjährig den Freitod suchte, indem er das Atmen einstellte, aber schwerer und langweiliger als der Weg des Chrysippos, der sich mit dreiundsiebzig totlachte.

Daß der Mensch sich Dinge einverleibt (so wie er überhaupt erst zum Existieren kommt, indem er einverleibt wird), ist also irgendwie naturgegeben und eigentlich auch recht logisch; schließlich muß er den Leibmotor am Rödeln halten, weil sonst Sense ist. Da geht es ihm nicht anders als allen Wesen, die auf dem Planeten kreuchen, fleuchen beziehungsweise einfach wurzeln. Schwierig wird es da, wo die Besonderheiten anfangen: Im Unterschied zu allen anderen Lebensformen kann, nein: muß der Mensch abstrahieren. Während der Gehirn-Körper-Metabolismus der Katze relativ einfach verläuft (Gehirn meldet: Vorne muß was rein – mampf mampf – Gehirn meldet: Hinten muß was raus – usw.), überträgt der Mensch die Notwendigkeit des Einverleibens zwanghaft auf andere Bereiche.

So ist zu erklären, daß der moderne Mensch praktisch sämtliche Tätigkeiten, die Glück, Freude und Zufriedenheit erzeugen (vom Sex bis zum müßigen Herumliegen), durch besinnungsloses Mampfen ersetzt. So erklärt sich auch der absurde Trieb des wahnhaften Sammlers, der sich die Bude so lange mit sinnlosem Zeug vollrammelt, bis ihm unweigerlich der Boden unter den Füßen davonstürzt und er von Hekatomben ungehörter CDs, antiker Telephonkarten und vergilbter Zeitschriften begraben wird.

Unter diesem Aspekt erscheint es auch logisch, daß Firmen andere Firmen aufkaufen, daß Millionäre den Armen die Almosen kürzen lassen, um noch reicher zu werden, daß eine Stadt wie München sich ihr Umland derart vehement einverleibt, daß sie notfalls den Bewohnern des Freisinger Landes das Grundrecht auf Heimat abspricht, um ihren Flughafenmonsterdarm noch weiter aufblähen und ihre „Leistungsträger“ noch ein paar Sekunden schneller an die Knoten- punkte der Entscheidung schei … Verzeihung: schießen zu können. In derartigen Zwangsneurosen steckt indes immer ein Fehler, ein Grundirrtum, den derjenige, der von dem Wahn befallen ist, natürlich nicht bemerken kann. In diesem Fall ist der springende Punkt der, daß die Einverleibung grundsätzlich nur dann einen sinnvollen Verlauf nehmen kann, wenn (siehe Katze) hinten fast so viel wieder herauskommt, wie vorne hineingegangen ist, und der Rest verbrannt wird. Das geht beim Essen bis zu einem bestimmten Punkt; beim Geldraffen, Zeugsammeln und beim krebsartig wuchernden Wirtschaftswachstum geht es nicht. Da ist jeweils irgendwann Sense, dann macht es rumms, und alles weitere ist zu unappetitlich für einen sonnigen Tag wie heute.

Seltsamerweise gibt es einen Bereich der Einverleibung, der aus unerfindlichen Gründen tabu ist: den sogenannten Kannibalismus, bei dem der Mensch nicht andersartige Tiere, sondern seinesgleichen verzehrt. Bei andersartigen Tieren ist ihm das (im wahrsten Sinne des Wortes) wurst: Er füttert Schweine mit Schweinemehl, Fische mit Fischmehl, Hühner mit Hühnermehl, weigert sich aber, den eigenen Nachbarn zu grillen oder sich ein Stück vom eigenen Schinken zu servieren, und wenn auf einer polynesischen Insel ein deutscher Abenteurer verschwindet und später in Knochenform neben einem Lagerfeuer gefunden wird, jault „Bild“ im üblichen Hetzton stellvertretend für die ganze Wurstmampfernation: Fraß dieser Jäger den deutschen Urlauber?

Woher das kommt, ist schwer zu sagen. Fleisch ist Fleisch, möchte man meinen, zumindest im Darm, gepökelt und geräuchert. Zumal sich der moderne Mensch bei anderer Gelegenheit eifrig Teile von Artgenossen einverleibt, vom Blut über Haut und Sehne, Knochen, Gesicht bis zur handfesten Innerei, ob Herz, Niere oder Bauchspeicheldrüse. Aus allen Rohren feuert derzeit die Propagandamaschinerie der Organhändler: Wer keinen Ausweis bei sich trägt, der ihn als „Spender“ von Organen kenntlich macht, der wird früher oder später dazu gezwungen werden, und sei es in sanfter Form durch soziale Ächtung. Es ist ein gewaltiges Geschäft, das dahintersteckt, denn das „gespendete“ Organ wird im Moment seiner Entnahme zur Ware, und zwar zu einer sehr profitablen. Deshalb achten die, die davon profitieren, auch peinlich genau darauf, daß niemand sie überwacht, prüft, untersucht oder ihre Definitionen in Frage stellt. Deshalb auch beruht das ganze Geschäft auf einer großen Lüge: Niemandem, der aus gesunder Nächstenliebe nach dem Tod auf seine Organe zu verzichten bereit ist, wird erklärt, daß Organe von Toten nutzlos sind, daß Organe nur dann transplantiert werden können, wenn sie lebenden Körpern entnommen werden. Um dies zu verschleiern, erfanden die Profiteure eine neue Definition des Todes, der seit 1997 dann eintritt, wenn die beiden Diagnostiker die letzte von acht nötigen Unterschriften geleistet haben. Seitdem ist es möglich, tot zu sein und dennoch zu schwitzen, sich ruckartig zu bewegen, zu erröten, mit den Schultern zu zucken, das Bein anzuziehen, eine Erektion zu haben, den Diagnostiker zu umarmen und anderes zu tun, was früher als Lebenszeichen galt.

Nicht einmal eine Narkose, so erfahren wir, sei nötig, wenn der „Spender“ ausgeschlachtet wird, weil: ein „Hirntoter“ keinen Schmerz mehr empfinden kann. Woher man das weiß? Man weiß es nicht, man hat es so bestimmt. Daß der „Tote“ am Ende der bis zu sechsstündigen Prozedur, wenn man ihm schließlich eine Kühlflüssigkeit in die Adern pumpt, immer noch zuckt, muß ja nichts bedeuten. Vor kurzem nahm man noch an, daß Fische generell keinen Schmerz empfinden. Das weiß man heute besser. Von „Hirntoten“ will man es nicht wissen. Man will auch nicht wissen, daß viele Organempfänger für den meist kurzen Rest ihres Lebens unter kannibalistischen Alpträumen leiden.

Ich bestreite nicht, daß hinter der Millionenindustrie ein menschenfreundlicher Grundgedanke und gute Absichten stecken (zumindest irgendwo). Aber wie wir alle wissen, ist gut gemeint nicht zwingend gut, und ob es gut ist, daß das moderne Leben im Leib eines anderen Menschen nicht nur beginnt, sondern auch (stückweise) endet, mag ich nicht beurteilen müssen. Vielleicht ist es am Ende so, daß sich der Mensch idealerweise nur das einverleibt, was er entweder verbrennen oder wieder ausscheiden kann.

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN (diese Folge am 9. November 2011) und liegt in fünf Bänden als Buch vor.

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