Frisch gepreßt #419: Guns N‘ Roses „Appetite For Destruction (Deluxe Edition)“

Hey, weißt du noch, Sommer 1990? Was waren wir für snobistische, vom Leben und der Welt genervte Gammler! Hingen Tag und Nacht in denselben zerrissenen T-Shirts und Jeans und Turnschuhen in denselben Bars und Kneipen rum, streckten Koks mit Abführmittel und verschenkten es an Modetrottel am Tresen, fragten in jedem Club den DJ nach der neuen Stone-Roses-Single, kifften zwischendurch in Dachgeschoßen auf versifften Teppichen, hörten auf einem aschebestäubten, eiernden Dual-Plattenspieler knisternde und knackende obskure Import-EPs in Rauhfaserhüllen von
grunzenden, jammernden, über ihre Gitarren stolpernden Indiebands aus Texas, Helsinki und Alaska, grunzten und jammerten selber rum und stolperten über unsere Gitarren, wenn mal wieder ein Mädel böse oder das Bier warm oder umgeschüttet war. Fanden Rock ‘n‘ Roll komplett over, außer ein paar Soloalben von Ronnie Wood, weil die noch kompletter over waren, wußten aber auch nicht, was sonst.

Und dann kam plötzlich die Sonne wieder raus, und da ist uns der Kragen geplatzt: Das Leben muß sich ändern, hast du am Telefon gesagt; nein, ich: Wir müssen das Leben ändern! Aber wie? Mit Hardrock, hast du gesagt, und ich: Hardrock? Uff! Deep Purple ist 15 oder 16 oder 17 Jahre her, Led Zeppelin sowieso gestorben, den Rest gab es noch nie, puh, da bin ich raus. Aber Fugazi und NoMeansNo halfen halt auch nicht mehr. Also wieder ins Bett?

Nix. Dann nämlich du draußen auf der Straße mit dem Cabrio, geliehen von einer Schnepfe, oder geklaut, das weiß man ja immer erst hinterher. Zwei Gitarren auf dem Notsitz, ein Fuchsschwanz aus pinkem Plastik an der mindestens zwei Meter langen Antenne. Fahren wir zur Ruderregatta, schreiben Songs und werden Rockstars! Und klick: der Kassettenrekorder! Komisches Zeug, schnippelige Stadiongitarren, rummsbumms, und beim ersten Ton, beim ersten, zweiten, dritten aufgesetzt brünftigen Japsen des Sängers, der sich anhörte wie Alice Cooper in einer Tubenpresse, wollte ich sofort wieder aussteigen und lieber eine Pizza im Keller. Aber die Karre war schon zu schnell.

Die Mucke, damals eh schon nicht mehr neu, sondern der Hut vom vorvorletzten Jahr, als wir mit Spandexhosen und Catweazle-Frisuren so viel zu tun haben wollten wie mit der ZDF-Hitparade, dann ja streckenweise auch, und wir waren uns ja einig: Diese Songs sind der reine Witz, aber was für ein geiler! Dieser Schlagzeuger drischt auf seine Kiste ein wie ein manischer Sumoringer mit gelähmten Armen, aber es knallt! Diese Gitarrensoli hören sich an wie Aerosmith mit zwei Pfund Abflußfrei in den Nebenhöhlen (also wie Aerosmith), aber sie hauen dir den Kopf weg! Diese Maskerade, diese Klamotten, dieses Getue – der peinlichste Faschingszug seit Giesing 1979, aber das brauchen wir auch, sofort, noch greller!

Die Gitarren blieben dann auf dem Notsitz, und das Kassettenteil lief weiter, drüben auf dem Parkplatz, bis ein Kerl daherkam und uns was von laichenden Fischen und Mißgeburten erzählte (womit er entweder die Fische oder doch uns meinte). Aber der Gin Tonic in dieser Spiegelglitzerbar schmeckte besser als das lauwarme Bier beim Heinz; das Kiffen ließen wir sein, weil die Ladies das wegen ihrer Seidenbettbezüge nicht so toll fanden, und bei Sonnenaufgang auf dem Königsplatz waren wir uns wieder einig: Sleaze-Rock ist die Zukunft! Na ja, nicht die Zukunft, eher die Gegenwart, nein: das große Ding, oder sagen wir: ein Riesenspaß für eine Nacht, für die sich nur schämt, wer noch nie mit Kippe im Ohr und Turnschuh im Mund aufgewacht ist.

Wow, ist das lange her! Jetzt sitzen wir im Museum und haben die Wahl zwischen (mindestens) drei Jubiläumsausgaben: fünf CDs und sieben LPs mit Buch für knapp tausend Dollar, ohne LPs für 150 Euro, beide Male 73 Tracks (EPs, B-Seiten, Liveaufnahmen, Demos, Videos, „moderne“ Mischungen). Oder halt zwei CDs, auf denen eigentlich auch alles drauf ist, was man zum gänsehäutigen Erinnern braucht, eher zu viel für auf einmal. Oder wollen wir es wagen, nach all der langen Zeit doch mal lange genug nüchtern zu bleiben, um sechs Minuten und 13 Sekunden „Rocket Queen“ durchzustehen?

So oder so: sind wir vielleicht noch Gammler und snobistisch, aber vom Leben und der Welt genervt? No, Sir, und beides könnten wir zumindest zum Teil Guns N‘ Roses verdanken. Dafür: Merci!

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert