Frisch gepreßt #398: Hammock „Mysterium“

Der frühe Herbst ist die Zeit, in der Erinnerungen zu Träumen und Träume zu Erinnerungen werden, in der unerfüllte Gefühle, vergebliche Sehnsucht und sporadische Zärtlichkeiten in Bilder fließen, die, von Klängen getragen, das Leben des Vergangenen und das zukünftige Erleben prägen. Eine Baumkrone am Isarufer im spätaugustlichen Gelblicht, ein lächelndes Halbgesicht über einer Bettkante im rauchigen Halbdunkel, schwindender Frühnebel zwischen Feldern, der letzte Sonnenstrahl in einem Bergeinschnitt – selbst der triefendste Kitsch findet seinen gerechten Platz im Museum der Augenblicke, die einem, wenn das innere Abspielgerät sie unversehens hervorholt, das Herz zerreißen oder überfließen lassen, zu reminiszenten Tränen oder einem stillen, wehmütigen Lächeln rühren.

Nicht so leicht, die entsprechenden Klänge zu finden, die wie Trigger wirken und die Türen zu den Sälen des Museums aufschwingen lassen. Wer kennt das nicht, daß zum schlimmsten Beispiel der erste Kuß der ersten großen Liebe dank der fiesen Laune eines boshaften Zufallsteufels unauslöschlich mit einem ganz schlimmen Sommerhit von Boney M., mit der Beschallung einer Fernsehreklame für Toilettenpapier oder einem aus einem unweit geputzt werdenden Auto herausträllernden Schlagerrefrain verknüpft und unauflöslich verstrickt ist? Man hat da nicht viele Möglichkeiten; die Zufallsteufel sitzen meistens am längeren Hebel, und wahrscheinlich niemand wollte sich ein unvergeßliches Erlebnis verkneifen oder es bis zu einem günstigeren Zeitpunkt aufschieben (an dem es dann nie mehr stattfinden kann), nur weil grad Mistmucke läuft.

Manchmal aber läßt sich ein sozusagen gesteuertes Erinnern durchaus herbeiführen. Und auch in dieser Hinsicht ist die momentan durch die Landschaften rauschende Jahreszeit ausgezeichnet. Zum Beispiel könnte man die Orte (oder einige), an denen sich vor nicht langer, aber im frühen Herbst ewig scheinender Zeit Glücksmomente, aber auch schneidende Enttäuschungen, unscheinbare Katastrophen und schwellende Sehnsüchte abgespielt haben, noch mal abspazieren oder abradeln, innehalten und kontemplieren und dazu eine Musik hören, die das bemühte Wiedererleben zu einem tatsächlichen, zum ursprünglichen Erleben vergoldet, indem sie das Fühlen intensiviert und das Denken berauscht. Dadurch erhält selbst der schmerzhafteste Moment der Trennung und Entsagung, des Wartens und Verlassenseins einen irgendwie triumphalen Wert als, na ja, Erinnerungskunstwerk.

Hammock-Alben eignen sich in dieser Hinsicht so perfekt, als wären sie eigens dafür geschaffen (was sie ja vielleicht auch sind), insbesondere die letzten und vor allem das neue, das zehnte, mit dem sich in gewisser Weise ein Kreis schließt, der mit dutzenden nie zur Veröffentlichung gedachten Aufnahmen, Nebentätigkeiten der Common-Children-Gitarristen Marc Byrd und Andrew Thompson begann und dessen Bewegung vom Hadern mit metaphorischem Geräusch zum Zerfließen in transzendenter, kristallklarer, überirdischer Schönheit führte.

Hammock (zu deutsch: Hängematte, ein eigentlich viel zu deutlicher Name) brauchen dafür meistens keine Worte (diesmal abgesehen von einem verhallten Chor in „Elegy“ und ein paar Zeilen im Epilog nur in Songtiteln, die assoziative Reflexzonen massieren: „Now And Not Yet“, „Things Of Beauty Burn“, „Dust Swirling Into Your Shape“ …), und auch die Beats sind aus ihren Klängen nun weitestgehend verschwunden, die verfremdeten Gitarren eingegangen in spärlich schimmernde bis orchestral schwellende Sphären (zu denen Matt Kidd alias Slow Meadow als Gast viel beigetragen hat).

In den so erzeugten Memoralbildern sammelt und speichert sich weit mehr als nur der erlebte, zum körperlosen Kunstwerk veredelte Moment; noch das kleinste, nie bewußt wahrgenommene Nebengeräusch und Randbild zieht ein in einen geschlossenen Kosmos, in dem Erinnern zum Traum und Träumen zu Erinnern wird. (Zu Risiken und Nebenwirkungen beachten sie bitte nicht die Packungsbeilage; im Falle einer Überdosierung hat sich die Anwendung von hochdosiertem Real Hip Hop, Post-Punk, Hardcore oder Stille bewährt.)

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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