Frisch gepreßt #393: Can „The Singles“

Wußten Sie eigentlich, daß Punk eine Münchner Erfindung war?

Um die Antwort („nein“) auf diese etwas abwegige Frage näher zu erörtern, sollten wir zunächst klären, was wir unter dem Begriff (Punk, nicht Antwort, oder: doch) verstehen.

Punk also. Gemeinhin bekannt als das lustlos laute, einer jahrzehntealten, eisern industriell genormten Formel entsprechend erstellte Äquivalent zu Autotune-Gebrauchsgeräuschen für den Bereich „Rock“ (zwei bis vier Viertel, verzerrgitarrenähnlicher Harmonielärm in zwei bis fünf Tonlagen, emotionslose Emotionssurrogatstimmen der Kategorien „Aufbegehren“ bis „Trotz“). Historisches Mißverständnis Nummer eins: das, wogegen etwas gerichtet war, mit diesem Etwas verwechseln.

Punk nämlich: das historisch singuläre Aus-den-Angeln-Heben, weniger Konterkarieren als komplette Verwerfen und Umgehen hergebrachter Einstellungen zu und Produktions-/Verwendungsweisen von Musik. Das gänzlich Andere, das für einen weltgeschichtlichen Moment „Neue“ schlechthin. Mißverständnis Nummer zwei: „neu“ im Sinne von „aktuell“ ist der vollkommen falsche Begriff, weil „aktuell“ nichts anderes bedeutet als: seriell. Das „neue“ Album einer Punkrockband des Jahres 2017 (oder 1981, 1996, 2003) ist kein anderes als das alte (das letzte „neue“) in leicht veränderter Anordnung und Verpackung, so wie das „neue“ Produkt des Fertignahrungsherstellers das alte ist – Zusammensetzung, Gebrauchsweise, Intention und Wert unterscheiden sich nicht.

Hingegen Punk (1976 und jenseits der Jahreszahlsystematik) ist „neu“ ausschließlich im Sinne von anders und daher tatsächlich: neu, immer. In diesem Sinne Neues verschwindet spätestens mit dem Moment seiner materiellen Entstehung aus den Abläufen der seriellen Aktualität.
„Puh, wie akademisch!“

Aber klar. Bei dem Geräuscherzeugungskollektiv Can (vormals Inner Space) handelte es sich nicht um eine Firma zur Erstellung von Produkten, handelte es sich andererseits definitiv um Punk im erwähnten Begriffssinn und handelte es sich drittens um eine Verbindung von zwei Studenten der abseitigen Musik, die bei Karlheinz Stockhausen ihr Hirn öffnen gelernt hatten, (anfangs) einem Dozenten für elektronische Musik, einem von den Grenzen seines Genres frustrierten Free-Jazzer und einem generell Identitätssuchenden, von denen keiner mehr Verbindung zum Rock ’n’ Roll (egal in welchem Begriffssinn) hatte als ein nächtlicher Dschungel zu einer Packung Fertignahrung.

Can: 1968 bis (ca.) 1976 die aufregendste, am meisten andere und intensivst neue Musikgruppe vielleicht der Welt, jedenfalls in ihrer absoluten Unvergleichlichkeit und Unzuordenbarkeit typisch für eine damals verbreitete Geisteshaltung in der deutschen Musik. Oder eben: ein Konglomerat von Geisteshaltungen, experimentell, individuell, improvisativ, motorisch (der englische Begriff für ihre Musik lautete so: „Motorik“) und jenseits dieser und anderer Adjektive. Inspiration und mit einer Mischung aus Staunen und Ehrfurcht geschätzte Einflußquelle für John Lydon, Siouxsie & The Banshees, The Fall, Joy Division, David Bowie, Suicide, Primal Scream und praktisch jeden von Punk über New Wave, Post-Punk, Ambient, Elektronik bis hin zu den fernsten Ausläufern der Avantgarde an Musik Interessierten, die das war: neu im Sinne von anders, jenseits von allem.

Can aber auch: Teil der normalen, (fast) alltäglichen Kultur, zu hören in Filmen und Fernsehsendungen, als solche Dinge noch (oft) Kultur und nicht Fertignahrung waren. Verschwunden im Augenblick ihrer materiellen Entstehung und doch nicht wegzukriegen aus dem Unterbewußtsein der längst nur noch „populären“ Musik.

Wiederzuentdecken. Längst. Neu zu entdecken. Immer. Zum Beispiel mit dieser Sammlung von (o ja, das gab es!) Singles aus den Jahren 1968 bis 1990 (die ersten beiden fehlen), die Schrecken, Faszination, Gänsehaut, Befremdung und Aufbruch verbreiten, vor allem aber: das Hirn öffnen. Der Erkenntnis: Was wir kennen, was wir versuchen, ist nur ein Bruchteil dessen, was möglich ist und interessant sein könnte.

„Hm. Und was ist nun mit München?“

Ach so, ja. Da saßen Holger Czukay und Jaki Liebezeit im Frühling 1970 im Café Europa an der Leopoldstraße inmitten einer wüsten Horde von Gammlern und Hippies herum, als ein offensichtlich ziemlich irrer Japaner namens Damo Suzuki vorbeischlenderte und sie ihn fragten, ob er nicht mal „singen“ wolle. Nur eine Anekdote, aber so geht (Musik-)Geschichte auch.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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