Frisch gepreßt #374: The Divine Comedy „Foreverland“

Neulich saß ich mit einem Freund beim letzten Bier, und da kamen wir auf 1996 zu sprechen, auf die Britpop-Supernova, die damals das gesamte Universum zu entflammen schien, obwohl sie ihren Höhepunkt längst überschritten hatte und die blendende Euphorie zu zähneknirschender Überheblichkeit aufgebläht war, deren letzter Furz mit „Be Here Now“ eine ganze Generation derart ins Vibrieren brachte, daß sie es kaum noch aufs Klo schaffte. Vor allem sprachen wir über den pyroklastischen Strom von tausenden Bands, die die Welt erobern wollten und froh sein mußten, wenn sie es ins Vorprogramm von Gene oder Heavy Stereo schafften. Die niemand mehr wahrnahm, obwohl viele davon doch einen guten Song zu bieten hatten, von Elcka bis Jocasta, von Speeed bis Ringo, von Hurricane #1 bis Babybird usw. usf. – die Namen fluteten nur so aus dem plötzlich erwachten Nostalgiegedächtnis, selbst solche, die wir uns nie eingeprägt, die wir überhaupt nicht bewußt gehört hatten.

Einen haben wir mal wieder vergessen. Einen, den alle immer vergessen. Der zwar dabei war, aber nicht recht dazugehörte, bis heute nicht dazugehört, nirgendwo, aber immer noch dabei ist, weil er das wohl irgendwie auch schon immer war: Neil Hannon, der vielleicht britischste und zugleich unbritischste aller britischen und sonstigen Songwriter. Manch einer wähnte ihn im Rausch des Rauschs zum neuen Bowie (zwischen „Uncle Arthur“ und „Hunky Dory“), andere zum neuen Paul McCartney (zwischen „When I’m Sixty-four“ und „Blackbird“), nannten ihn barock, verschroben, opulent, eigen, genial, whimsical, theatralisch, hyperintelligent, ein unheilbares Spielkind und dies und das, was ihm alles nicht gerecht wurde, weil es zwar stimmt(e), er aber immer anders war und doch bis heute genauso geblieben ist, wie er immer war.

Daß Neil Hannon (der sich als „Band“ The Divine Comedy nennt) weder die Euphorie noch Kater und Überdruß jener Zeit groß mitbekam, liegt an seiner gesund autistischen Grundeinstellung: Die Welt, wie sie angeblich ist, ist ihm wurst, der Ernst des Lebens und das ganze Gezippe, Gezappe und Gezuppe der großöffentlichen Schafherde da draußen (vor seinem Wolkenpalast) sowieso. Seine Lieder sind geschlossene Systeme einer endemischen, hermetischen Schönheit, in denen es vordergründig um alles Mögliche geht (Katharina die Große, Napoleon und ein Wesen mit dem sprechenden Namen „Funny Peculiar“ zum Beispiel) oder um nichts als einen netten Wortwitz, in Wahrheit aber immer um Liebe, Einsamkeit, Glück, Hoffnung, Verzweiflung und noch mehr Liebe.

Glück, genau, und Liebe: Niemand, den ich kenne, schreibt und musiziert mit so viel Glück und Liebe im Herzen und Trauer in der Seele, niemand tänzelt so graziös auf dem dünnen Spannseil zwischen Selbstironie, emotionaler Aufrichtigkeit und kindischer Freude am Blödsinn wie Neil Hannon. Und wenn ihm mal das Gleichgewicht zu verrutschen droht, bricht er ein gerade noch rührend poetisches Lied wie „Other People“ lieber mit einem lakonischen „Bla bla“ einfach ab, als zu riskieren, daß Tante Pathos es sich in seinem Salon gemütlich macht und ihm seinen Tee wegschlürft. Daß so einer seine dunklen Seiten kennt und weiß, was mit ihm passiert, wenn man ihn allein läßt, versteht sich von selbst. Daß er in einem durchaus lustigen Lied („How Can You Leave Me On My Own“) davon erzählt, das einem einen verdorbenen Tag sogar nachträglich retten und vergolden kann, obwohl und weil das alles unendlich traurig ist, versteht sich eben nur bei Neil Hannon.

Wer weiß, ob Popmusik jemals noch mal die Bedeutung und weltgeschichtlich-autobiographische Relevanz haben wird wie 1996 (die derzeitige Nummer eins in Großbritannien ist ein Best-of-Album von ELO mit 8.000 verkauften Exemplaren). Wer weiß, ob wir noch mal eine solche Supernova erleben (oder uns das wünschen sollten). Aber wenn, dann wird Neil Hannon, der alterslos unsterbliche Dandy mit der angewachsenen Rundbrille, irgendwie dabei und nicht dabei sein. Und wenn nicht, ist ihm das wahrscheinlich auch egal.

Die Kolumne „Frisch gepreßt“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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