WM-Tagebuch 2006 – 05 Mittendrin der Tod

Donnerstag, 15. Juni 2006:

Nur Minutenwege entfernt vom tobenden WM-Metropolenkessel finde ich mich in einem grenzenlosen Areal scheinbarer Idylle, wo das Wasser schläft wie weiches Silber, die Bäume müde ragen, die Sonne vanillebleich hineinschmilzt in den ewigen Himmel; da sitzt man zwischen offenen Ziegelwänden und findet nichts zu betrachten als eine längliche Kiste aus Holz, in der angeblich der Körper eines lieben Kollegen und guten Freundes liegen soll. Den sieht man nicht, und ich habe ihn lange nicht gesehen, und wie ich so darüber nachdenke, habe ich ihn überhaupt nicht oft gesehen und kaum je berührt; und dennoch schien er irgendwie immer da zu sein, konnte ich seine Stimme hören, sein Lächeln sehen, seine Argumente, Geschichten und Deutungen einfließen lassen in das, was man so gerne für das eigene Denken hält. Jetzt könnte ich zusammenrechnen, auf ein paar Dutzend Begegnungen, Diskussionen, gemeinsame Abende, Telephongespräche kommen, eine unsichtbare Linie aus Punkten in der trägen Strömerei der Zeit erkennen und mich fragen, wie etwas enden kann, was nie begonnen hat, sondern immer war und ist. Bis zu dem Anruf, der Mitteilung vom plötzlichen Tod; nein, bis jetzt und hier zwischen diesen Ziegelwänden, in der trüben Hitze der Sprachlosigkeit danach, nein: bis irgendwann, wenn die Asche auf einem griechischen Berg verstreut ist und ich mit einem kleinen, stechenden Schmerz hinter den Augen seine Mailadresse gelöscht habe und mich frage, ob überhaupt irgend etwas ist und nicht vielmehr nichts.

Kommentar verfassen

Entdecke mehr von Michael Sailers Blog

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen