WM-Tagebuch 2006 – 04 Lautstilles Wochenende (Versuch über den Jubel)

Sonntag, 11. Juni 2006:

Auf der Wiese am Chinesischen Turm, wo sonst die Kinder spielen, steht ein Digitalaltar, plärrt Reklamebotschaften in die Menge davor, der Zustrom aus allen Richtungen schwillt an. Lachen kann im schwarzrotgelben Leibermeer niemand; die Gesichter zerren bissige Zornfratzen, kehlige Chöre fordern „Steht auf, wenn ihr Deutsche seid!“ Auf einer grotesken Pedalkarosse trifft eine schwarzrotgelbe Blaskapelle mit Großtrommel ein, wie Ameisen schnappen sich Neuankömmlinge die Bänke um uns herum und zerren sie vor den Altar, dann erstickt der Lärm jeden Gesprächsversuch. Flucht.

Der von früheren Weltmeisterschaften gewohnte hofkarreeerschütternde Torjubel bleibt aus, obwohl die deutsche Mannschaft trotz gewohnt ideenlosem und unbeholfenem Spiel viermal Anlaß gäbe. Dafür ziehen bis spät in die Nacht Rinnsale der Begeisterung vom „Fan-Fest“ im Olympiagelände durch Schwabing; das Repertoire ist aufs mindeste beschränkt: „Deutschland!“ zu krummen Melodierudimenten, notfalls zur Viersilbigkeit gedehnt („Do-ho-heutschland!“). Traumhauptige Bilder plausibler Folgen von Sieg und Niederlage, destilliert in (wach unzulässige) Regionalismen: Der Mitteleuropäer gewinnt triumphierend, mit Da-habt-ihr’s!-wuchtigem Täterä; Verlieren ist ihm Versagen, das er nicht mit Trauer oder Achselzucken nimmt, sondern mit schamerfüllter Wut gegen vermeintlich Schwächere über das erlittene Unrecht. Beim Mittel- und Südamerikaner ziert die Niederlage ein Lächeln und eine Träne, der Sieg kann ausnahmsweise (siehe Menottis verweigerten Handschlag für die Junta-Abgesandten 1978) schwellenden Zorn tragen, der sich im Gefühl kollektiver Kraft auf vermeintlich Stärkere richtet. Afrikaner feiern um der gemeinsamen Ekstase willen, umfassend gleichmütig und fröhlich auch als Verlierer, mit einer funkelnden Spur von Trotz (siehe Didier Drogba nach dem unglücklichen 1:2 gegen Argentinien). Die verzweigten Versuche der Zuordnung von Schweiz, Saudi-Arabien, Australien, Japan … münden endlich doch in Schlaf.
Erstaunlich tagsüber die schimmernde Idylle abseits von den unzähligen Brennpunkten mit mindestens Flachbildschirmen: Die Ruhe, die in unmittelbarer Nähe zum Toben über und in allem schwebt, scheint sogar die Zeit zu ertränken; da schließt die Stadt die Augen und gerinnt zum blausilbrigen Sommerlächeln.

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