Belästigungen 10/2016: Mit dem Segway (ohne Ziege) in den Abgrund der Satire

Niemand wird derzeit so ausgiebig und impertinent gebetsmühlenhaft zitiert wie Kurt Tucholsky oder vielmehr sein steinalter, in eine protztrumpfende rhetorische Frage gepackter Poesiealbumspruch von der Satire, die angeblich „alles“ darf. Das haben wir schon in der Schule gelernt, umgehend ausprobiert und mittels verschärfter Verweise und ähnlicher Drangsalierungen feststellen müssen, daß man lieber nicht alles, was man in der Schule lernt, in die Tat umsetzt, zumindest nicht wenn es um den Direktor oder die Deutschlehrerin geht.

Nun wissen wir alle, daß der alte Tucho nicht der Hellste und mit eher rudimentärem Witz (im Sinne von Scharfsinn) begabt war. Weil selbstverständlich die Satire ebensowenig „alles“ darf wie, sagen wir mal, die Landwirtschaft (um ein unverfängliches Beispiel zu wählen; wie wir ebenfalls alle wissen und täglich leidvoll erfahren, behaupten Regierungen und Leitmedien in diesem Lande seit einigen Jahrzehnten, „die Wirtschaft“ dürfe sehr wohl „alles“ und müsse das auch – aber darum soll es heute mal nicht gehen). Wenn zum Beispiel jemand herginge und dem bayerischen Ministerpräsidenten ein Küchenmesser in den Bauch rammte, um hinterher zu behaupten, es handle sich um Satire, wären wir uns sicherlich einig: Das darf der nicht!

Das Beispiel ist nicht so abwegig, wie es auf den ersten Blick wirkt. Um das zu erklären, sollten wir uns erst einmal klarmachen, was Satire eigentlich ist. Früher war das leicht: Da setzte man einer beliebigen öffentlichen Person eine lange Nase auf und ließ sie komisch durch die Gegend hampeln, oder man übertrieb die Blödheit gewisser kultureller, politischer oder sonstwelcher Erscheinungen so sehr, daß selbst ihre ärgsten Verfechter um ein verschämtes Grinsen nicht herumkamen, – schon hatte man eine Satire, die sich notfalls darin erschöpfte, Kinofilmtitel zu verblödeln oder Depperlversionen von aktuellen Pophits zu veröffentlichen.

Heute ist das nicht mehr so leicht. Übertreiben kann man kaum noch was, wie ein Blick auf die Mächtigen der Gegenwart zeigt: Kein Wunder, daß Urban Priol zwei Tage lang unter mentalem Muskelkater leidet, wenn er sich mal wieder verzweifelt müht, die Kanzlerin noch lächerlicher darzustellen, als sie selber ist, und selbst der geniale Helmut Schleich wirkt als Franz Josef Strauß bisweilen vernünftiger und irdischer als das Original, obwohl das noch Zeiten entstammt, in denen jemand wie Sigmar Gabriel sogar in der SPD höchstens eine Anstellung als funktionsuntauglicher, weil nur zu Übungszwecken dienender Hydrant gefunden hätte. Wer auch nur versucht, die Spitzenfiguren der Neo-FDP (die das „P“ durch ein „A“ ersetzt und die Buchstaben ein bisserl verwürfelt hat) oder gar den amtierenden Bundespräsidenten (oder seine beiden Vorgänger) satirisch zu überhöhen, gerät in die Gefahr der Selbstkompostierung.

So kam es zu dem merkwürdigen Phänomen, daß Satire heutzutage nur noch dann zum Lachen ist (vor Entsetzen), wenn sie ganz nüchtern von Tatsachen berichtet, recherchiert und belegt, prüft und folgert, wie das früher mal Journalisten taten. Die dürfen das heute nicht mehr – wir leben nun mal in Zeiten, in denen selbst ARTE-Dokumentationen kurzfristig abgesetzt werden, wenn der anfangs (wie heute üblich) durchaus und durch und durch voreingenommene Journalist im Lauf der Arbeit an seiner Geschichte feststellt, daß die von den transatlantischen Kriegstreibern ubiquitär über ihre Propagandablättchen SZ, Zeit, FAZ, Welt und BILD und die Fernseheinheitsfront verbreitete Version nicht ganz oder vielmehr überhaupt nicht stimmt. Was, der Putin ist gar nicht schuld?! Dann wird das auf keinen Fall gesendet!

Deshalb hat diese Funktion heute die Satire übernommen: Was früher in der Zeitung stand, erfährt man heute nur noch aus der „Anstalt“ (und der gute Herbert Feuerstein alias Alfred E. Neumann sähe sich heute mit Fragen konfrontiert, die ihn in tiefsten Depressionen versinken ließen). Was wiederum auch an dem Glücksfall liegen mag, daß nicht wenige der derzeit beliebtesten Satiriker im Grunde nichts anderes sind als ausgebildete Journalisten, die es mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren können, im Chor der eingeschworenen Trottel mitzublöken. Und weil es heutzutage auch nicht mehr en vogue ist, gegen die schlimmsten Ausschreitungen und Verbrechen der wirtschaftsfaschistischen Allmacht wenigstens mal wirksam zu protestieren, von der althergebrachten Tradition des Tyrannenmords ganz zu schweigen, ist absehbar, daß irgendwann auch diese unpopuläre Aufgabe die Satiriker übernehmen müssen.

Andererseits darf die Satire selbstverständlich auch nicht verleumden. Es wäre keine Satire gewesen, mitten in den (von keiner Satire zu überbietenden) FDP-Wahlkampf 2002 („Projekt 18“!) mit der Mitteilung hineinzuplatzen, Guido Westerwelle sei schwul – schon weil daran weder etwas auszusetzen noch „lustig“ ist. Und es ist keine Satire, zu behaupten, der als Volksverhetzer vorbestrafte türkische Staatspräsident Erdogan orientiere sich sexuell eher Richtung Ziegenstall, weil das – solange es nicht zu strafrechtlich relevanten Vorgängen kommt – ebenfalls niemanden etwas angeht.

Hingegen ist es sehr wohl Satire und erlaubt, im Rahmen eines parodistischen germanistisch-juristischen Seminars darauf hinzuweisen, welche ausländischen Staatsführer man unter den derzeit herrschenden Sprachregelungen und Konventionen wie sehr schmähen darf – um damit aufzuzeigen, wem unsere Regierenden in den Arsch hineinkriechen, damit er ihnen weiterhin syrische Flüchtlinge von der EU-Grenze wegschießt, und wem sie nicht in den Arsch hineinkriechen, weil „den Menschen“ ins Hirn gehämmert werden muß, daß es sich bei ihm um den dringend zu beseitigenden Absolutbösewicht, Neu-Hitler und natürlichen Kriegsgegner handelt. Lustig ist das indes nicht, eher traurig, daß es sein muß.

Und worüber lachen wir dann? Trösten wir uns damit, daß die besten (und makabersten) Satiren immer noch die Welt und das Leben selbst schreiben. Zum Beispiel wollte der Rechtsanwalt Garry Hoy einst einer Gruppe von Studenten beweisen, daß die Verglasung im 223 Meter hohen Toronto-Dominion Centre absolut unzerbrechlich ist, und warf sich zu diesem Zweck mit solcher Vehemenz gegen ein Fenster, daß der Rahmen aus seiner Verankerung brach und Hoy samt der intakten Scheibe in den Tod stürzte. Selbigen fand der Inhaber der Firma Segway, Jimi Heselden, indem er mit einem seiner oberlächerlichen Zweiradgefährte über eine Klippe direktemang in einen Abgrund düste.

So spielt das Leben. Es mag wünschenswert erscheinen, die derzeitigen Weltherrschaftsanstreber und ihre willigen Propagandisten möchten in den Abgrund ihrer eigenen Perfidie stürzen. Aber was ist schon ein Wunsch gegen eine gute Satire?

Die Kolumne „Belästigungen“ erscheint alle vierzehn Tage im Stadtmagazin IN MÜNCHEN.

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